Buchcover: "Nebenan" von Kristine Bilkau

"Nebenan" von Kristine Bilkau

Stand: 10.10.2022, 12:00 Uhr

Im Roman "Nebenan" beschreibt Kristine Bilkau das Leben in einer Kleinstadt am Nord-Ostseekanal, deren Zentrum von wachsendem Leerstand geprägt ist und was das mit seinen Menschen macht. Eine Rezension von Terry Albrecht.

Kristine Bilkau: Nebenan
Luchterhand Verlag, 2022.
288 Seiten, 22 Euro.

"Nebenan" von Kristine Bilkau

Lesestoff – neue Bücher 10.10.2022 05:10 Min. Verfügbar bis 10.10.2023 WDR Online Von Terry Albrecht


Download

Logistik statt Landschaft

"Ein Containerschiff schiebt sich langsam hinter den Baumkronen und dem Dach der Nachbarn vorbei. Anfangs, als sie erst wenige Tage hier wohnte, war es für sie ein unwirklicher Anblick, den Kanal und das Ufer nicht sehen zu können, selbst von hier oben, aus dem Schlafzimmer nicht, aber eine Schiffsbrücke und die geladenen Container. Stapel bunter Kästen, die gemächlich, wie von allein hinter den Dächern und Bäumen entlang glitten."

So beginnt Kristine Bilkaus neuer Roman "Nebenan". Ca. 30.000 Containerschiffe pro Jahr transportieren Güter durch die Landschaft Schleswig-Holsteins über den Nord-Ostsee-Kanal.

"Eine Fahrrinne mit einem Betriebsweg, die Schilder weisen in metergenau gleichen Abständen darauf hin, dass es hier um Logistik geht, nicht um Landschaft."

Überall Leerstand

Direkt an diesem Kanal liegt die namenlose Kleinstadt, in der "Nebenan" spielt. Der Ort wirkt recht gesichtslos und sein Markenzeichen ist eines, das sehr viele Kleinstädte Deutschlands auszeichnet: Leerstand. 

"Unaufhaltsam vertrocknet das Zentrum. Da helfen auch die Putztage für Schaufenster nichts, wie sie neulich veranstaltet worden sind.
Durch die blitzblanken Fenster sieht man die schäbigen Teppiche und leeren Regale nur noch deutlicher. Und dann das Kaufhaus, ein Jahrzehnt Leerstand."

Aus der Perspektive zweier Frauen, Astrid und Julia, erzählt Bilkau vom Leben am Nord-Ostseekanal. Julia ist Ende 30, Keramikerin und  aus Hamburg zugezogen, um hier ihre Werkstatt zu eröffnen. Der Zustand des Ortes kann sie nicht schrecken. 

"Sie fühlte sich sofort hingezogen zu dieser Stadt. Begeistert erkundete sie die stillen Hinterhöfe, schaute durch staubige Ladenfenster und staunte über die ungenutzten Räume. Wie verlockend das alles war."

Leben in einer strukturschwachen Region

Astrid ist um die 60 und Ärztin. Sie ist in dem Ort aufgewachsen und hat sich mit dem Leben hier arrangiert, wenn gleich Sie sich nach ihrer Studienzeit in der Großstadt und Reisen in die Ferne sehnt. Nicht nur ihr Beruf, auch ihre alte, etwas eigensinnige Tante, um die sie sich kümmert, binden sie an den Ort.

Aus dem Blickwinkel der Paare Julia und Chris, sowie Astrid und Andreas beleuchtet Kristine Bilkau das Leben in dieser strukturschwachen Region, durch die zwar milliardenschwere Güter transportiert werden, von denen die Menschen hier aber außer einem verstellten Blick in die Landschaft nichts haben. Auch Julias Anfangseuphorie schwindet mit der Zeit.

Trotz Leerstands sind die Ladenlokalmieten hoch, denn Leerstand lässt sich steuerlich besser absetzen, sagt einer der Bewohner. Julias Begeisterung schwindet erst recht, als plötzlich die Nachbarn aus einem vermeintlichen Urlaub nicht zurückkehren und auch deren Wohnhaus leer bleibt.

"'Wisst ihr, ob die Winters verreist sind?', hat sie einige Male wie beiläufig gefragt, wenn sie mit jemanden aus dem Dorf ins Gespräch kam. Sie wollte nicht alarmiert klingen, um kein Gerede zu erzeugen. Doch einige schienen die Winters nicht einmal zu kennen."

Sehnsucht nach Freundschaft

In dieser Kleinstadt kreisen die Menschen wie fremde Satelliten umeinander, ohne sich wirklich näher zu kommen. Die Sehnsucht nach freundschaftlicher Bindung - wie bei Astrid zu ihrer Nachbarin Marja - bleibt unerfüllt, auch weil die Vorurteile die eine  gegenüber der anderen hat, große Nähe nicht zulassen. Auch Julia zieht sich immer mehr ins Private zurück.

Alltagsleben und Existenzängste

Kristine Bilkau erweist sich als eine sehr genaue Beobachterin der sozialen und materiellen Schwierigkeiten des Alltagslebens und der Existenzängste der Menschen dieses Ortes. Exemplarisch stehen Julia und Astrid für diese Sehnsucht des Einzelnen nach Zugehörigkeit und Vertrauen. Bilkau erzählt das, ohne wertend im Ton einer allwissende Autorin einzugreifen.

Dadurch entsteht ein beispielhaftes Bild unserer zunehmend erodierenden Wohlstandsgesellschaft und den wachsenden Entfremdungsmechanismen, die damit einher gehen. Ein - in dieser Hinsicht - bedrückender, aber eindrucksvoll und sprachlich schön geschriebener Roman.