"Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha" von Marcel Beyer

Stand: 26.05.2023, 12:00 Uhr

Was vermag Literatur im Angesicht brutaler Vernichtung? Marcel Beyers neues Buch setzt sich mit dem Schreiben in Zeiten des Krieges auseinander. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Marcel Beyer: Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha
Wallstein Verlag, 2023.
144 Seiten, 20 Euro.

"Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha" von Marcel Beyer Lesestoff – neue Bücher 26.05.2023 05:21 Min. Verfügbar bis 25.05.2024 WDR Online Von Dirk Hohnsträter

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"Ich schreibe Anfang April, zu Frühlingsbeginn 2022. Wir erwarten die Rückkehr der Zugvögel. Auf den Bildern, die ich seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine am Morgen des 24. Februar gesehen habe, ist mir etwas aufgefallen. Etwas, das es auf diesen Bildern nicht zu sehen gibt. Es fehlen die Krähen."

Wenige Sätze nur, und schon ist die Anordnung dieses Buches vor uns ausgebreitet: Betrachtungen, geschrieben im klaren Bewusstsein eines nur zwei Flugstunden entfernten Vernichtungskriegs. Betrachtungen, die aus dem schnell vorbeiziehenden Bilderstrom der Medien aussteigen und ihre Leser immer tiefer in die Wirklichkeit verwickeln.

Denn von den Krähen gelangt Beyer zu jenen von der russischen Propaganda erfundenen Killerviren, die angeblich durch ukrainische Vögel verbreitet werden und mit denen der russische UN-Botschafter den Angriffskrieg rechtfertigte. Beyer berichtet, wie die Ukrainer auf diese Mär reagieren: mit bitterem Humor.

"Dass schwarzer Humor eine Waffe gegen den Ernst des Tötens darstellt – die Ukrainer haben es begriffen. Und selbst wenn dieser schwarze Humor das Töten nicht beenden kann, kann er doch helfen, sich für einen Moment lebendiger zu fühlen, während man Stunde um Stunde in Todesangst verbringt."

Der Autor lebt in Dresden, einer Stadt, in der ältere Bewohner noch am eigenen Leib erfahren haben, was Bombenkrieg bedeutet. Und die sich durch ihre geopolitische Lage beunruhigend nah am Geschehen befindet:

"Ich gehe ans Fenster und sehe, im Sonnenuntergang fliegt ein schwerer Transporthelikopter über die Dächer heran, niedrig und langsam, ein Chinook der US-Armee. […] Während der folgenden Tage werden sie immer wieder zu hören sein, die Chinooks und Apaches und Black Hawks, die, von Wiesbaden kommend, auf dem Flughafen Dresden zwischenlanden, um aufzutanken, bevor der Flug weitergeht Richtung Osten. Ab jetzt leben wir im Ausnahmezustand."

Beschäftigte sich Beyer nur mit eigenen Beobachtungen und Bildern in den Medien, man könnte sein Buch als eines unter vielen Zeitbeiträgen beiseitelegen. Doch es geht ihm um mehr, nämlich um die Möglichkeit des Schreibens in Zeiten des Krieges.

Er will erreichen, was nur Literatur erreichen kann: die eingeschliffenen Gewohnheiten des raschen Überfliegens und Nurnebenbeihinschauens zu unterbrechen. Es ist die Kunst des Marcel Beyer, in seine Sätze kleine Widerhaken einzubauen, Wahrnehmung zu ermöglichen, unsere nach immer neuer Abwechslung suchenden Reflexe auszuhebeln:

"Mag der innere Widerstand dagegen derzeit auch groß sein – gerade jetzt erweist es sich als aufschlussreich, wenn man den Abscheu überwindet und noch einmal die innere Bildergalerie abschreitet, in der – dicht an dicht, in Petersburger Hängung – die ikonographischen Fotografien der Putin-Ära versammelt sind."

Der Einschub "in Petersburger Hängung" – eine Hängetechnik, wie sie in der Sankt Petersburger Eremitage gebräuchlich ist – kontrastiert Putins kraftstrotzende Propaganda mit dem kulturellen Erbe seines Landes.

Für Bayer bleibt dieses Erbe ein wichtiger Bezugspunkt. Unter anderem, indem er sich mit einem Text des russischen Autors Viktor Schklowski auseinandersetzt, in dem dieser die Belagerung von Petersburg während des russischen Bürgerkriegs im Winter 1919 beschreibt. Bei der Lektüre gleitet Beyer in eine, wie er sagt, "besondere Aufmerksamkeit":

"Der Wahrnehmung des tatsächlichen Einmarschs samt den mit ihm verbundenen Grausamkeiten ging eine ausgedehnte Phase der Sensibilisierung voraus, entlang meiner Beobachtung von kleinen Verschiebungen im Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen dem Individuum und jener Wirklichkeit, in der es sich bewegt, der es nicht entfliehen kann. Die Sensibilisierung erfolgte nicht, indem ich mich der außersprachlichen Welt zuwandte. Sie fand statt auf dem Feld der Literatur."

Beyer berichtet, dass er in dieser Zeit der Sensibilisierung „außergewöhnlich langsam“ las. Seine eigenen Leser sind gut beraten, es ebenso zu tun. Mit dem Russen Schklowski als Komplizen und dem Wahldresdener Beyer als Berichterstatter, rückt die Wirklichkeit dieses unfassbaren Krieges beklemmend nah an uns heran.