
"Die leuchtende Republik" von Andrés Barba
Stand: 24.03.2023, 12:00 Uhr
Obdachlose Kinder tauchen wie aus dem Nichts auf und morden in einem Supermarkt. In Andrés Barbas spannendem Roman "Die leuchtende Republik" jagen Erwachsene unzivilisierte Kinder und erweisen sich doch selbst als enthemmte Wilde. Eine Rezension von Tobias Wenzel.
Andrés Barba: Die leuchtende Republik
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.
Luchterhand, 2022.
224 Seiten, 22 Euro.
"Viele der Kinder sammeln sich am Eingang, andere fangen zu weinen an, und manche bücken sich und betrachten aus einigen Metern Abstand ihre Opfer, wie betäubt von dem, was sie da gerade getan haben. Überraschend ist die Dauer des Überfalls, die Plumpheit und was sich simultan für unterschiedliche Dinge abspielen; fast zehn Minuten lang kommen Leute herein, gehen hinaus und wieder hinein, als würde nichts geschehen. Eine Frau nutzt die Gelegenheit und lässt etwas mitgehen, was wie ein Haarfärbemittel aussieht, während auf der anderen Seite des Regals ein zehnjähriges Mädchen einem Erwachsenen gerade ein Messer in den Bauch rammt."
1995 in der fiktiven, tropischen Stadt San Cristóbal: 32 obdachlose Kinder, die ihre eigene Sprache sprechen und von denen niemand weiß, wer sie sind, haben einen Supermarkt verwüstet und Kunden umgebracht. Fünfzehn Jahre später versucht der Ich-Erzähler in Andrés Barbas Romans "Die leuchtende Republik", ein Sozialarbeiter der Stadt, zu rekonstruieren, wie das traumatische Ereignis im Supermarkt bald eine regelrechte Jagd auf die Kinder auslöste. Der Spanier Barba versteht sich als ein philosophischer Autor. So stellt er sich am Anfang jedes seiner Bücher eine philosophische Frage, der er dann beim Schreiben nachgeht:
"Dieser Roman 'Die leuchtende Republik' hat mit einem Konzept des Philosophen Jürgen Habermas zu tun, mit seiner Konsenstheorie der Wahrheit. Wahrheit konstituiert sich demnach durch einen demokratischen Prozess, dadurch, worauf sich eine Gemeinschaft einigen kann. Diese Idee fand ich sehr faszinierend."
Eine solche Gemeinschaft bilden in diesem spannenden, atmosphärisch dicht erzählten und von Susanne Lange kongenial übersetzen Roman die Erwachsenen, die Angst vor den anarchischen Kindern haben. Mit einem raffinierten Kniff macht Barba die Geschichte für seinen Ich-Erzähler zu einer noch aufwühlenderen Angelegenheit: Einer der obdachlosen Jungen erweist sich als der Halbbruder jenes Mädchens, dessen Stiefvater der Ich-Erzähler ist. Einige Stadtkinder fühlen sich von den obdachlosen Kindern angezogen, glauben, auf geradezu magische Weise Kontakt zu ihnen aufnehmen zu können:
"Irgendwann begannen unsere Kinder, fast wie im Spiel, ihr Ohr an die Erde zu legen, um die 32 zu hören. [...] Sobald wir den Raum verließen, sobald sie allein im Garten blieben, zwischen den Schulstunden oder in ihren Zimmern, gingen sie mit stockendem Herzen auf die Knie und legten das Ohr an den Boden, wetteiferten darum, wer als Erster die Kinder hörte."
Einige Kinder der Stadt verschwinden plötzlich. Die Vermutung: Sie haben sich den anarchischen Kindern angeschlossen. Die Erwachsenen, vom Bürgermeister über die Eltern der verschwundenen Kinder bis zum Erzähler, radikalisieren sich, verdrängen, dass die obdachlosen Kinder eben nur Kinder sind. Sie machen sie zu ihren Feinden; später wird eines von ihnen sogar gefoltert. Schnell erscheinen nicht die obdachlosen Kinder als Bedrohung, sondern die enthemmten Erwachsenen.
"Ohne Zweifel. Dieses Buch ist stark von Joseph Conrad beeinflusst, den ich viel gelesen und auch übersetzt habe. Sein großes Thema ist die Frage: Was ist Zivilisation? Und am Ende jedes Textes von Conrad erscheint der vermeintlich Zivilisierte als wild und der vermeintlich Wilde als zivilisiert. Dass wir in andere Kulturen Minderwertigkeit hineininterpretieren, hat viel mit unseren eigenen Vorurteilen zu tun. Wir alle müssen unaufhörlich versuchen, unsere Vorurteile abzubauen."
Die obdachlosen Kinder finden ein tragisches Ende. Zuvor aber entdecken die Erwachsenen ihr unterirdisches Reich, das die Kinder mit derart vielen Spiegel- und Glasscherben ausstaffiert haben, dass es wie ein glitzernder Staat im Staate wirkt. Andrés Barba ist mit "Die leuchtende Republik" ein grandioser Roman geglückt, eine sprachmächtige, düstere Geschichte, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und doch von uns allen erzählt. Ein Buch darüber, wie Erwachsene Tatsachen verbiegen und schutzbedürftige Kinder zu Monstern uminterpretieren, um sie bekämpfen zu dürfen.
"Wenn es ein Thema des 21. Jahrhunderts gibt, dann das: Was ist die Wahrheit? Was zum Teufel ist die Wahrheit?"