Barbaros Altuğ: Ausländer
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner.
Orlanda-Verlag, Berlin 2022.
157 Seiten, 19 Euro.
Nicht mehr dieselbe Stadt
"Es war die Zeit, in der viele von uns mit dem Gedanken spielten, das Land zu verlassen. Wir waren bedrückt. Uns war klar geworden, dass die schönen Tage, die wir nicht richtig zu schätzen gewusst hatten, nun für immer vorbei waren."
Mit "August 2016" ist der Anfang dieses Romans datiert. Wenige Wochen nach dem gescheiterten Putsch-Versuch in der Türkei sitzen einige Freunde zusammen und beschließen, ins Ausland zu gehen:
"Der Sommer ging seinem Ende entgegen, doch nach wie vor war es heiß. Vielleicht nicht ganz so heiß wie in den vergangenen Jahren, aber definitiv war Istanbul für uns nicht mehr dieselbe Stadt; eine langwährende Gemeinschaft schien allmählich zu zerfallen. Unsere Stammlokale hatten geschlossen, unsere Lieblingsdichter saßen im Gefängnis und es erschienen immer weniger Bücher, die wir noch hätten lesen wollen."
Von der verlorenen Heimat träumen
Zunächst geben sich die drei Freundinnen der Illusion hin, dass es ich nur um ein paar Tage Urlaub handelt. Sie fliegen nach Lissabon. Doch schon bald erreicht sie die Nachricht, dass die Wohnung von einer von ihnen - sie ist Journalistin - von der Polizei durchsucht wurde. Sie können nicht mehr zurück, ohne Gefahr zu laufen verhaftet zu werden.
Eine der Frauen verliebt sich und bleibt zunächst in Portugal; die zweite zieht weiter nach Asien und versenkt sich in fernöstliche Entspannungstechniken. Die dritte fliegt nach Berlin.
In der deutschen Hauptstadt lebt seit 2016 auch der Schriftsteller und Journalist Barbaros Altuğ. So wie seine Protagonistinnen musste er die Türkei verlassen. Hier ist er ein "Ausländer". Seine Romanfiguren lässt er von der verlorenen Heimat träumen:
"Die sprachliche Erinnerung ähnelt der von Geruch: Wenn du ein Wort in dieser Sprache hörst, kehrst du zurück in die Kindheit, an Orte, an denen du dich geborgen fühlst. Und wenn es keinen gibt, mit dem du in der Sprache deiner Kindheit sprechen kannst? Dann führst du entweder Selbstgespräche – oder du schreibst, so wie ich es tue."
Mehr als eine Exil-Geschichte
"Ausländer" ist ein todtrauriger Roman über das Exil und die Hoffnungslosigkeit. Über allem schwebt der Umbruch in der Türkei, die Entwicklung des Landes zu einem autoritären Staat. Das macht ihn einerseits zu einem höchst politischen Buch. Aber der Erzähler gibt sich nicht mit einer Exil-Geschichte zufrieden.
Seine Protagonisten sind höchst komplexe Figuren, Angehörige einer intellektuellen Mittelschicht, die im Ausland weniger an materiellen Problemen leiden, als an seelischen. Nicht nur an der Entfremdung von ihrer Heimat, sondern auch an ihren persönlichen Enttäuschungen, verkorksten Beziehungen, Trennungen - und an ihrer sexuellen Selbstfindung. Denn die Ich-Erzählerin Dunya wurde als Junge geboren:
"Ich hatte mir gewünscht, unter anderem Namen ein neues Leben zu beginnen, ein Leben, in dem ich selbst sein konnte. (…) Da ich dem Körper, in dem ich geboren worden war, und dem Geschlecht, das man meinte mir zuschreiben zu müssen, bereits entronnen war, brauchte ich auch den Namen, den ich seit meiner Geburt hatte, nicht länger zu tragen."
Ein fein gesponnenes Stück Literatur
Barbaros Altuğ hatte schon in seinem früheren Roman "Sticht in meine Seele" bewiesen, wie einfühlsam und eindringlich er Gefühle und Stimmungen in seine Romanfiguren hineinlegen kann.
Auch hier wieder kommt seine Sprache den Figuren sehr nah, sie ist äußerst intim, ohne dass es kitschig oder melodramatisch wirken würde. Altuğ setzt kein Wort zuviel. Der Roman ist eine Ansammlung zahlreicher kurzer Kapitel, in denen sich an den unterschiedlichen Orten - Istanbul, Lissabon, Berlin - jeweils konzentrierte, aufs Wesentliche zugspitzte Szenen abspielen.
"Ausländer" ist ein bewegendes, fein gesponnenes Stück Literatur über Freundschaft und Orientierungslosigkeit, über Identitätssuche - und über Menschen, die aus dem Leben gerissen wurden und - als "Ausländer", in fremder Umgebung - einen neuen Sinn suchen.