Schwieriger Umgang im Fußball mit mentalen Problemen

Stand: 16.06.2018, 08:08 Uhr

Ingolfur Sigurdsson, 25, galt als einer der talentiertesten isländischen Nachwuchsspieler und spielte für die U17- und U19-Nationalmannschaften seines Landes. In den Niederlanden und Dänemark versuchte er, als Profi Fuß zu fassen. Doch wegen einer Angsstörung musste er den Traum vom Profifußball aufgeben. Im Interview mit Sport inside spricht er über den Umgang mit mentalen Problemen im Fußball und warum das Thema immer noch ein Tabu ist.

Sport inside: Herr Sigurdsson, vor ein paar Wochen hat der ehemalige deutsche Nationalspieler Per Mertesacker in einem Interview sehr offen über Druck und Ängste im Profifußball gesprochen. Die Reaktionen einiger ehemaliger Profis darauf waren nicht nur positiv. Wie erklären Sie sich das?

Ingolfur Sigurdsson: Ich glaube, das hat etwas mit dem traditionellen Bild von Sportlern zu tun. Ein Sportler muss stark sein, darf keine Schwächen zeigen. Aber das ändert sich gerade. Mehr und mehr realisieren die Leute, dass es sich - egal in welchem Sport - in aller erster Linie um Menschen handelt mit Gefühlen und Ängsten. Man kann auch als Profi mentale Probleme haben wie andere auch und trotzdem auf dem höchsten Level Fußball spielen. Sportler, wie zum Beispiel Per Mertesacker, beginnen sich zu öffnen. Und so ändern sich die Dinge langsam in die richtige Richtung.

Sport inside: Betrifft das vor allem männliche Sportler?

Sigurdsson: Ich kann das schwer beurteilen. Vielleicht ist es so: Männer versuchen zu überleben und wenn sie überleben wollen, versuchen sie, ihre Gefühle zu verstecken, weil sie keine Schwächen zeigen wollen. Männer werden so erzogen. Dabei ist das total unnötig. Alle diese Dinge, Ängste, mentale Probleme etc. sind Teil des Lebens. Also, um Ihnen eine Antwort zu geben: Ja, es hat etwas damit zu tun, dass wir Männer sind. Wir versuchen immer stark zu sein.

Sport inside: Sie haben ihre persönliche Geschichte mit mentalen Problemen als Sportler. Was genau ist passiert?

Sigurdsson: Ich hatte Talent und galt als einer der vielleicht vielversprechendsten Spieler in Island. Mit 14 Jahren bin ich in die Niederlande gegangen, um dort für Heerenveen zu spielen. Dort fing ich an ängstlich zu werden. Ich war nicht mehr ich selbst und hatte schwer zu kämpfen, mental und physisch. Am Ende hat sich herausgestellt, dass es sich um eine Angststörung handelt. Daran musste ich die nächsten sieben oder acht Jahre arbeiten. Ich habe drei Mal versucht, ins Ausland zu gehen und als Profi zu spielen. Zwei Mal in Heerenveen, das dritte Mal in Lyngby in Dänemark. Aber jedes Mal endete es damit, dass ich wegen meiner Ängste zurück nach Island musste, um mich behandeln zu lassen. Ich weiß nicht, ob es nötig war, mit dem Profifußball aufzuhören, aber damals war es mein großes Geheimnis. Niemand sollte etwas davon wissen. Ich habe versucht, mich zu verstecken, und auf der anderen Seite wussten die Klubs nicht, wie sie damit umgehen sollten. Und als ich das dritte Mal zurückgekommen bin nach Island, habe ich entschieden, meine Gesundheit an erste Stelle zu setzen und Fußball nur noch zum Spaß zu spielen.

Sport inside: Wäre es möglich gewesen, sich an die Klubs zu wenden und um Hilfe zu bitten?

Sigurdsson: Der Klub in Heerenveen zum Beispiel wusste Bescheid. Sie wussten, womit ich zu kämpfen hatte. Aber sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollen oder wie sie mir hätten helfen können, obwohl sie das natürlich wollten. Ich wusste ja selbst nicht, was los war, weil ich die Krankheit nicht kannte. Es ist schwer, die perfekte Idee zu haben, wie man diese Dinge angeht. Im Nachhinein sieht man vielleicht die Lösung.

Sport inside: Was wäre eine solche Lösung?

Sigurdsson: Ich denke, am wichtigsten ist es, offen zu kommunizieren, diese Dinge im Sport zuzulassen. Man sollte mentale Probleme wie eine Verletzung behandeln. Dir kann die Achillessehne reißen und du fehlst für einige Wochen oder einige Monate. Das ist kein Problem. Danach stehst du wieder auf dem Platz. Warum sollte das nicht auch bei einer Depression oder bei Ängsten gehen? Man sollte sich behandeln lassen können und danach vielleicht wieder auf dem Platz stehen. Wir gehen durch unser Leben und an dem ein oder anderen Punkt haben wir Probleme, Probleme mit uns selbst. Wenn man leidet oder wie ich eine Krankheit hat, sollte man es angehen und dann weitermachen. Anstatt Angst zu haben, darüber zu sprechen, müssen wir uns öffnen. Warum kann man nicht sagen, dass man depressiv ist oder Angst hat, so wie man sagt, dass man letzte Woche eine Grippe hatte?

Sport inside: Hat der Fußball ihre Probleme verschlimmert?

Sigurdsson: Zunächst einmal: Die Krankheit bin ja nicht ich. Ich hatte keine Angst davor, Fußball zu spielen. Gar nicht. Beim Fußball konnte ich alles vergessen, für die Fans spielen und Spaß haben. Aber natürlich gibt es diesen Druck. Und das kann natürlich schwierig werden. Das muss man wissen und man muss lernen, damit umzugehen. Bei mir waren es, sagen die Ärzte, wohl eher Umstände in meiner Kindheit. Aber wenn man so etwas im Sport zulässt, dann wird es für alle Sportler leichter.

Sport inside: Aber ist die Befürchtung nicht, dass der Gegner das als Schwäche verstehen und ausnutzen könnte?

Sigurdsson: Es könnte sein, aber vielleicht sagt das dann mehr über deinen Gegner aus als über dich selbst. Wir akzeptieren ja auch keinen Rassismus im Stadion, warum sollte es hier anders sein? Die schlechten Leute, die sich abfällig über mentale Probleme äußern, sollten nicht die Kontrolle darüber haben. Absolut nicht.

Sport inside: Sie haben offen über Ihre Probleme gesprochen. Wie waren die Reaktionen darauf?

Sigurdsson: Die Reaktionen waren positiv. Die meisten Leute waren interessiert an meiner Geschichte, weil es ungewöhnlich ist, dass sich ein professioneller Fußballspieler in so einem Fall öffnet. Ich war in Schulen, in Fußballklubs, ich habe mit tausenden Leuten gesprochen und überall hat man mir zugehört. Ich habe auch festgestellt, dass vor allem junge Leute, Teenager, ebenfalls sehr offen sind, wenn ich mit ihnen darüber spreche. Sie erzählen vor allen Leuten, dass sie zum Psychologen gehen. Das macht Hoffnung, weil sie viel offener damit umgehen als meine Generation.

Sport inside: Gab es auch Reaktionen aus dem Profifußball?

Sigurdsson: Ich bin von einigen Fußballern hier in Island kontaktiert worden. Viele erzählen ähnliche Geschichten, haben ähnliche Probleme. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe immer gedacht, ich bin damit alleine, aber es gibt so viele Leute, die mit vielen Dingen zu kämpfen haben. Viel mehr, als man denkt.

Sport inside: Wie kann man die Kultur in einem so genannten "Männersport" wie Fußball ändern?

Sigurdsson: Ich glaube, das muss von den Verbänden kommen. Sie müssen sich dazu äußern, dass es mentale Gesundheitsprobleme auch im Sport gibt, um so jenen Leuten, die innerhalb des Sports damit zu kämpfen haben, einen Weg zu öffnen. Damit man erkennt, dass auch eine solche Krankheit kein Grund dafür ist, keinen Leistungssport zu machen. Am Ende werden alle davon profitieren.

Sport inside: Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft im Profifußball?

Sigurdsson: Das ist eine gute Frage. Vor zwei Monaten hatte ich eine Anfrage aus der zweiten norwegischen Liga. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Ich bin glücklich mit dieser Entscheidung. Es gab einige Möglichkeiten, nochmal als Profi ins Ausland zu gehen, aber es hat sich nie richtig angefühlt. Sollte ich es nochmal als Profi versuchen, was eher unwahrscheinlich ist, dann - cool. Aber ich bin nicht besessen davon. Ich weiß, dass ich das Talent habe, aber ich habe gelernt, dass es noch andere Dinge im Leben gibt.

Sport inside: Island spielt zum ersten Mal bei einer WM, wie erleben Sie das?

Sigurdsson: Natürlich ist das unglaublich, eine fantastische Leistung und alle sind stolz darauf, Isländer zu sein. Früher wollte niemand die Spiele der isländischen Nationalmannschaft sehen. Wenn ich meine Freunde gefragt habe, ob sie mit ins Stadion gehen, haben sie gesagt: Auf gar keinen Fall. Heute sind die Spiele ausverkauft und wir müssen größere Stadien bauen. Alle sind begeistert von unserer Reise. Ich freue mich auf die Spiele. Aber ich muss zugeben, dass ich dabei auch gemischte Gefühle habe. Ich habe in der Jugendnationalmannschaft gespielt, ich war Profi und es war natürlich mein Ziel, für mein Land zu spielen. Ich kenne viele Spieler des Teams, habe mit vielen von ihnen zusammengespielt, darum bin ich manchmal ein bisschen traurig, dass ich nicht auf dem Rasen bin und dem Ball hinterherjage. Aber gut, so ist das Leben. Auf der anderen Seite bin ich sehr glücklich da, wo ich bin. Ich bereue nichts.

Das Gespräch führte Andrea Schültke