Deutschland gähnt: Wir schlafen zu wenig

Stand: 18.04.2016, 20:46 Uhr

Schlafmangel macht dick, dumm und krank. Da sind sich Schlafforscher einig. Trotzdem schlafen wir nicht genug. Wer wenig schläft, gilt als produktiv, willensstark und leistungsfähig - vor allem in Politik und Wirtschaft.

Von Ulrike Wolff

1. Sechs Stunden Nachtruhe oder weniger reichen nicht

Ein Drittel der Deutschen schläft zu wenig. Das gefährdet die Gesundheit. Zu dem Ergebnis kommt eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse Knappschaft. Zwar kommen danach 65 Prozent der Befragten auf die empfohlene Schlafdauer von sieben Stunden pro Nacht, doch 25 Prozent schlafen durchschnittlich nur sechs, neun Prozent sogar nur bis zu fünf Stunden pro Nacht. Bei vielen sammelt sich so unter der Woche ein Schlafdefizit an. "Wir sollten da zwischen einem einfachen und einem chronischen Schlafdefizit unterscheiden", sagt Knappschaftsexperte Dr. Sven-Olaf Schneider. "Wer mal zwei Nächte weniger Schlaf bekommt, kompensiert das schnell. Ein chronisches Schlafdefizit lässt sich nicht so schnell oder vielleicht auch gar nicht ausgleichen.“ Schneider ist leitender Oberarzt und Leiter des Schlaflabors an der Klinik für Pneumologie, Allergologie und Schlafmedizin der Kliniken Essen-Mitte.

2. Chronischer Schlafmangel hat gravierende Folgen

"Wer weniger schläft, ist früher tot", heißt es plakativ in der Umfrage. Und Studien belegen, dass dauerhaft schlechter oder zu wenig Schlaf tatsächlich gravierende Folgen hat. "Wenn man dauerhaft nur sechs Stunden schläft, schlägt das auf das Gemüt: Schlechte Laune, es leidet die Geschicklichkeit, das Gedächtnis, die Genauigkeit", beschreibt Professor Dr. Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums der Charité in Berlin, die kurzfristigen Effekte von Schlafmangel. "Langfristige Effekte stellen sich nach fünf bis zehn Jahren ein. Man läuft Gefahr, hohen Blutdruck zu entwickeln, Zucker und letztendlich mindert sich die Lebenserwartung."

Und außerdem macht Schlafmangel dick. Wieso das so ist, zeigt dieses Video:

3. Sieben bis siebeneinhalb Stunden Schlaf braucht der Erwachsene

"Erst seit diesem Jahr gibt es eine Richtlinie, wie viel Schlaf wir brauchen, um gesund zu leben: Unabhängig vom Alter etwa sieben, siebeneinhalb Stunden", so Ingo Fietze. Abweichungen von den Empfehlungen gibt es selbstverständlich. Das Schlafbedürfnis unterscheidet sich ohnehin von Person zu Person. Wichtig daher für jeden: Erkennen, wie viel Schlaf man tatsächlich braucht. Eine einfache Faustregel zur Selbstprüfung nennt Schlafforscher Jürgen Zulley von der Universität Regensburg: "Ob man einen erholsamen Schlaf hat, merkt man daran, dass man sich den gesamten Tag über nicht müde fühlt.

4. Nicht jeder kann genug schlafen

Wollen ist das eine, Können das andere. Junge Eltern können ein Lied davon singen. Abgesehen von Einschlafproblemen bis hin zu schweren Schlafstörungen gibt es weitere Faktoren, die uns von ausreichendem und gutem Schlaf abhalten. Da wäre die Schichtarbeit, der frühe Arbeits- oder Schulbeginn, lange Arbeitstage. Ein Alsdorfer Gymnasium geht nun einen eigenen Weg: Der Unterrichtsbeginn ist flexibel.

5. Politiker und Führungskräfte in höheren Positionen: ein besonderes Kapitel

Wir kennen die Bilder und Berichterstattungen über Sitzungen oder Verhandlungen, die sich hinziehen - nicht selten bis tief in die Nacht hinein oder sogar bis zum Morgengrauen. Danach erschöpfte aber zufriedene Politiker, die vor die Kameras und Mikros treten. Politische Marathons, die sich über ein vernünftiges Zeitmaß hinaus hinziehen? Vielleicht auch nicht - und alles Kalkül. Denn: Wer müde ist, ist kompromissbereiter. Gut, denn sonst gäbe es nie eine Einigung? Oder schlecht? Schlafmediziner Hans-Günter Weeß sagt: "Übermüdet tendiere der Mensch dazu, von seinen ethisch-moralischen Grundsätzen abzurücken und risikofreudiger zu werden – weil er einfach nur ins Bett will." Dazu kommt, dass zu wenig Schlaf wie ein leichter Alkoholrausch wirken kann: Schon 17 Stunden Wachsein wirken wie 0,5 Promille Alkohol, 22 Stunden entsprechen einem Promille.

6. Müdigkeit als Verhandlungsmittel?

Möglicherweise ja. Bundeskanzlerin Angela Merkel steht im Ruf, ihre Positionen nach langen Verhandlungsnächten durchzusetzen, sagte WDR-Hauptstadtkorrespondent Philipp Menn im Zuge der Verhandlungen zur Eurokrise 2015. Von sich sagt Angela Merkel: "Ich habe eine Art Kamelkapazität, mit Schlaf umzugehen." Vier Stunden Schlaf über mehrere Tage könnten dann genügen - allerdings nicht auf Dauer, schränkt sie ein. Gerade in Politik und Wirtschaft stehen ein geringes Schlafbedürfnis für Biss und politische Durchsetzungskraft. Es ist der vermeintliche Sieg des Willens über die Bedürfnisse des Körpers.

7. Geringes Schlafbedürfnis als Sinnbild für Leistung

Wenig Schlafen gehört in Führungsetagen offenbar zum guten Ton. Das hat sich seit Napoleon nicht geändert: "Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot." Diesen Satz soll einst Napoleon gesagt haben. Er selbst behauptete von sich, kaum Schlaf zu brauchen. Auch überliefert sind allerdings Berichte, dass Napoleon den Schlaf dann heimlich mittags nachholte oder auch mal übermüdet im Sattel einnickte.

Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher war auch so eine, die damit kokettierte, nie mehr als vier Stunden die Nacht zu schlafen. "Schlafen ist etwas für Weicheier", soll die Eiserne Lady gesagt haben. Und der Satz "Schlafen kann ich, wenn ich tot bin" kommt auch allenthalben zum Einsatz, etwa bei Regisseur Rainer Werner Fassbinder. Der Spruch macht die Einstellung deutlich: Wer schläft, verpasst etwas, schafft und erlebt nichts und verschwendet Lebenszeit.

Eine gefährliche Fehleinschätzung, die allerdings nicht bedeutet, dass Schlafen immer gut ist, denn zu viel Schlaf ist ebenso ungesund. Und untätig sind wir nun wirklich nicht, wenn wir schlafen. Im Gegenteil: In Körper und Geist ist ganz schön viel los.