Dieser Schuss kann nach hinten losgehen

Stand: 18.02.2016, 15:55 Uhr

Das Pfefferspray in der Handtasche, die Schreckschusspistole am Gürtel: Waffen zur Selbstverteidigung boomen. Doch der Schutz, den sie versprechen, ist brüchig. Es kann auch richtig gefährlich werden.

1. Mehr als 21.000 neue Waffenscheine in zwei Monaten

Die Angriffe von Köln und Paris, die Angst vor den vermeintlich gefährlichen Flüchtlingen: Die Ereignisse der letzten Monate schlagen sich nicht nur in populistischen Parolen nieder. Viele Menschen wollen Schutz für ihre Familie und kaufen Pfefferspray und Schreckschusspistolen für den Heimgebrauch. Fast 301.000 sogenannte "Kleine Waffenscheine" hat das Nationale Waffenregister in Deutschland bis Ende Januar registriert. Das geht aus der Anfrage der Grünen Abgeordneten und Sprecherin für innere Sicherheit, Irene Mihalic, an das Bundesinnenministerium vom 28. Januar hervor. Zum Vergleich: Noch Ende November 2015 waren es noch 279.531 Waffenscheine. Auch die Verkaufszahlen für Pfefferspray sind in den vergangenen Monaten nach oben geschossen. Vielerorts waren sie sogar ausverkauft. Deutschland rüstet sich auf. Kann das gut gehen?

2. Nur die "Spitze vom Eisberg"

Irene Mihalic findet den aktuellen Run auf die Waffenscheine "besorgniserregend". "Dass es so viele Anträge gibt, zeigt, dass die Menschen den staatlichen Institutionen nicht mehr trauen", sagt die Abgeordnete dem WDR. Viele hätten das Gefühl, dass sie jetzt selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen. Dem stimmt Daniela Schmidt auf der Facebookseite der Aktuellen Stunde zu. Auch sie fühlt sich unsicher und findet: "Daran sollte schnellstens was geändert werden."

Dabei ist der Kleine Waffenschein nur die "Spitze vom Eisberg", so Mihalic. Zwar erlaubt dieser Schein, dass Schreckschuss- und Signalpistolen auch außerhalb des eigenen Grundstücks bei sich getragen werden dürfen – sie können aber auch komplett ohne Waffenschein gekauft werden. Dazu muss der Käufer nur über 18 Jahre alt sein. Ohne Schein muss die Waffe eigentlich zu Hause bleiben. Doch oft fiele erst auf, dass gegen die Auflagen verstoßen wird, wenn die Waffen illegalerweise benutzt werden. So auch bei den Angriffen auf das Flüchtlingsheim in Ahaus: Die Täter hatten keine Berechtigung, eine Schreckschusspistole bei sich zu tragen. Jörg Kehren schreibt uns auf Facebook: "Jeder mündige Bürger sollte sich schützen dürfen. Allerdings nicht andere Menschen bedrohen!"

Mit ihrer Anfrage an das Bundesinnenministerium wollte Mihalic deshalb auch Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es ihrer Meinung nach immer noch zu einfach ist, an eine Waffe zu kommen, und sei es 'nur' eine Schreckschusspistole. Facebooknutzer Ralf Küppers besitzt selbst den Kleinen Waffenschein aus beruflichen Gründen. Er schreibt uns: "Ich bin allerdings klar dafür dass es eine Registrierungspflicht für die SRS-Waffen gibt." SRS-Waffen steht für Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffen.

3. Im Zweifel nur bedingt einsatzbereit

Viele Frauen kennen die Situation: Ein fremder Mann macht im Vorbeigehen einen anzüglichen Kommentar oder begrapscht sie sogar. Selbst für eine passende verbale Antwort sind die meisten danach zu perplex. Wie sollen sie dann noch eine Dose Pfefferspray aus der Tasche ziehen oder sogar eine Schreckschusspistole abfeuern? Eine Ärztin aus Siegen schildert in der "Westfalenpost", wie sie von einem Mann überfallen und zu Boden gedrückt wurde: "Ich hatte kein Pfefferspray oder ähnliches dabei. Es hätte mir auch nichts genützt, denn ab dem Moment des Beginns des Angriffes hätte ich es nicht mehr benutzen können. Das gleiche gilt auch für alle anderen "Bewaffnungen." Eine Reaktion: Vollkommen unmöglich. Auch unsere Moderatorin Asli Sevindim denkt, dass sie nicht in Lage wäre, im richtigen Moment Pfefferspray oder eine Schreckschusspistole zu benutzen. "Ich bin nicht darauf vorbereitet, dass mich jemand angreift", sagt sie in unserem Video:

Als ausgebildete Polizistin weiß Irene Mihalic, dass Schreckschusspistolen und Pfefferspray in einer Krisensituation nicht unbedingt nur Schutz bieten können. Ihr seien aus ihrer Dienstzeit auch einige Fälle im Kopf, in der der Angreifer auf einmal die schützende Pfefferspraydose in der Hand hatte und sie gegen sein Opfer eingesetzt habe. "Darüber wird noch zu wenig nachgedacht“, so Mihalic. Sie würde andere Selbstverteidigungsstrategien vorziehen.

4. Wie im Wilden Westen?

In Amerika, dem Land der fast unbegrenzten Waffenscheine, ist die Sache einfach. Mehr Waffen gleich mehr Sicherheit, scheint die Logik vieler Amerikaner zu sein. Sogar im Homeshopping sind die Waffen angekommen: Beim Sender "Gun TV" wird statt der Funktionsbettwäsche oder dem Topfset der neue Colt zum Waffenhändler des Vertrauens geliefert. Das Ergebnis sind beängstigende Zahlen: Journalisten des CNN haben zusammen mit dem US-Gesundheitsministerium herausgefunden, dass 2013 insgesamt 33.636 Menschen in Amerika durch Schusswaffen getötet wurden - darunter auch Suizide. Einige User haben aber auch in Deutschland Angst, dass die Waffen von ungeübten Trägern eingesetzt werden. "Bei mir steigt auch die Angst, aber von den Bürgern die sich solche Waffen besorgen", schreibt Jacomo Leopardie auf der Aktuelle Stunde-Facebookseite.

"Wir befinden uns noch nicht auf den Weg in den Wilden Westen", beruhigt Irene Mihalic. Trotzdem müsse man gerade jetzt darauf achten, dass der Weg nicht in diese Richtung weitergeht. Dafür muss der Bürger sich wieder sicher fühlen. "Wir als Politiker müssen dafür Sorge tragen, dass die Polizei gut ausgerüstet ist", sagt Mihalic. In dieser aufgeladenen Situation könnten wir keine weiteren Waffen gebrauchen. "Ich glaube, je mehr Waffen im Umlauf sind, desto unsicherer ist das Ganze." Rocco Melzer erzählt auf der Facebookseite der Aktuellen Stunde von seiner Angst vor einer Überreaktion und Aufrüstung: "Viele der Leute, die so überreagieren, wissen weder, wofür Waffen sind, noch wissen diese, wie und wann man sie einsetzen darf. Das wird richtig nach hinten losgehen, da einige sofort überreagieren."