Der Kummer nach der Nummer: Geschlechtskrankheiten nehmen zu

Stand: 21.04.2016, 20:22 Uhr

Geschlechtskrankheiten? Gibt es außer Aids kaum noch, glauben viele. Doch die Zahlen von Syphilis und Gonorrhö steigen. Mögliche Gründe sind unter anderem Dating-Apps. Ein Bochumer Mediziner fordert aber auch mehr Aufklärung - und dafür fehlt Geld.

1. Keinesfalls ausgestorben

Hepatitis B und C, Gonorrhö und natürlich auch HIV – mit solchen Krankheiten können sich Menschen durch Sex oder die Übertragung von Körperflüssigkeiten anstecken. Das lehrt jeder Aufklärungsunterricht in der Schule. Mit einem besseren Zugang zu sexueller Aufklärung und Verhütungsmitteln sollten die Geschlechtskrankheiten eigentlich inzwischen eingedämmt worden sein. Doch ein neues Papier des Bundesministeriums für Gesundheit zeigt: Die Zahl der pro Jahr gemeldeten Geschlechtskrankheiten steigt immer noch. Auf dem Vormarsch sind bei jungen Menschen vor allem Chlamydien und Humane Papillomviren. Aber auch bei Hepatitis B (2.300 Fälle in 2014) und Hepatitis C (5.800 Fälle in 2014) steigen die Fälle.

Auch Krankheiten wie Gonorrhö und Syphilis kommen wieder. 2014 wurden ungefähr 5700 Syphiliserkrankungen gemeldet. Das ist fast eine Verdopplung gegenüber 2004. Besonders Männer sind betroffen: Über 5000 der Erkrankten waren männlich. Syphilis mag zwar nach Mittelalter klingen – sie ist aber auch im 21. Jahrhundert noch nicht ausgerottet.

2. Geschlechtskrankheiten 4.0

Als Ursache für den enormen Anstieg gibt das Strategiepapier das Ministerium in die "veränderte Verhaltensweise" in Sachen Sex an.

Vor allem das Internet sorgt für einen einfacheren Zugang zum Sex. Fragt man Menschen, was sie als erstes mit der Dating-App "Tinder" verbinden, antworten die meisten: "schneller Sex". Je häufiger ein One Night-Stand, desto größer die Chancen, sich anzustecken. Norbert Brockmeyer vom Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin der Ruhr-Universität Bochum (DSTIG) hält Onlineportale ebenfalls für eine mögliche Gefahr: "Sie schaffen eine Pseudovertrautheit zwischen den Partnern, obwohl sie nur ein, zweimal hin- und hergeschrieben haben. Damit wird die Hemmschwelle, ein Kondom zu benutzen, höher – man kennt sich ja." Vor allem Frauen und Mädchen könnten so unter Druck stehen. "Viele Mädchen hoffen insgeheim doch auf echte Gefühle, obwohl sie wissen, dass es meist nur um Sex geht", sagt Paula Lambert, Journalistin und Moderatorin der Sendung "Paula kommt", die sich mit Sexualität in allen Formen auseinandersetzt.

3. Die wilden 80er sind vorbei - oder?

Die wohl bekannteste Geschlechtskrankheit sind wohl HIV und Aids. Seit Anfang der 1980er Jahren ist die Immunschwäche Aids bekannt, erst 1983 wird das verantwortliche HI-Virus entdeckt. Damals galt Aids vor allem als eine Krankheit für homosexuelle Männer. Große Aufklärungsaktionen trugen dazu bei, dass mehr Kondome beim Geschlechtsverkehr benutzt werden – aus Angst vor einer Ansteckung.

Kondome werden in Deutschland immer noch viele verkauft, sagt Norbert Brockmeyer. "Daraus lässt sich nicht schließen, dass die Bevölkerung unvorsichtig geworden ist." Trotzdem verzeichnet die DSTIG einen enormen Anstieg der Geschlechtskrankheiten – vor allem von Syphilis und Chlamydien. "Wir bewegen uns mit den Ansteckungen in Richtung 60er, 70er Jahre zurück", so Brockmeyer. Das Problem: Nur wenige Ärzte kennen sich heute noch mit diesen Krankheiten aus, weil man glaubte, sie in den 90er Jahren zurückgedrängt zu haben. "Die Jugendlichen und teilweise auch die Erwachsenen, die es eigentlich besser wissen müssten, wiegen sich in einer selbsterklärten Sicherheit, die es gar nicht gibt", so Paula Lambert.

4. Aufgeklärtes Lieben - aber wie?

Das Ziel der DSTIG ist vor allem die Aufklärung. Doch auch Brockmeyer erkennt die Schwierigkeiten in der Schule: "Sexualität ist oft ein schwieriges Thema für die Lehrer und häufig Streitthema." Er empfiehlt, dass Externe in die Schulen kommen, um aufzuklären. Er selbst mache damit gute Erfahrung. "Nachdem die Hemmungen der Kinder gefallen sind, kommt da schon eine ganze Menge. Es geht ja auch um ihren Körper und Selbstverwirklichung." Paula Lambert findet: "Aufklärung muss beginnen, sobald die Kinder anfangen, sich für Sex zu interessieren. Ich finde, man kann nicht früh genug anfangen, unbedingt schon in der Grundschule."

Aufklärung reicht aber auch über die Schule hinaus. Brockmeyer nimmt unter anderem auch die Krankenkassen in die Pflicht. "Es braucht vor allem Geld." Ein großes Problem sei auch, dass viele Menschen glaubten, dass es keine Geschlechtskrankheiten mehr gebe und Aufklärungsbotschaften der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) teils falsch verstanden werden. Für Lambert liegt das auf der Hand: "Die schwächlichen Kampagnen der BZgA sprechen nun wirklich niemanden unter 40 an."  Sie fordert viel mehr Veranstaltungen für Jugendliche – auch von Jugendlichen. "Der Verein "Jugend gegen Aids e.V." macht da großartige Arbeit", so Lambert.

Es muss was passieren, da sind sich beide einig. Die Infektionszahlen hätten noch lange nicht ihre Höchstzahl erreicht, sagt Brockmeyer. "Sie werden noch lange ansteigen."