Grausamer Krieg, offener Ausgang: Was muss geschehen, damit die Ukraine siegen kann?

Der Faktencheck zur Sendung vom 11.04.2022

Russlands geschlagene Soldaten lassen vor Kiew das Grauen zurück. Kann die Ukraine mit so einem Feind noch einen Frieden aushandeln? Oder muss auch Deutschland mehr Waffen liefern, härtere Sanktionen mittragen, damit die Ukraine die russische Armee ganz besiegen kann?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt während der Sendung keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Alexander Graf Lambsdorff über ein Energieembargo

Alexander Graf Lambsdorff verlässt sich bei der Frage nach einem Ausstieg aus den Gasimporten aus Russland auf die Einschätzungen von Robert Habeck. Demnach müsste die deutsche Volkswirtschaft mit schwersten Verwerfungen rechnen.

Seit Beginn des Krieges haben die Länder der Europäischen Union nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell 35 Milliarden Euro für Öl, Kohle und Gas an Russland überwiesen. Kritiker sehen hierin eine direkte Finanzierung der russischen Kriegsmaschinerie und fordern einen sofortigen Stopp von Energielieferungen aus Russland. Welche Auswirkungen ein solches Embargo für die deutsche Wirtschaft haben könnte, darüber herrscht Uneinigkeit - auch unter Ökonomen.

Der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, warnt vor einem Stopp der russischen Gaslieferungen. In zentralen Bereichen würde dies zu einem zweieinhalbjährigen Stillstand der Produktion führen, so Hüther in einem Streitgespräch mit dem Volkswirtschaftler Jan Schnellenbach von der Brandenburgischen TU. Nach Ansicht von Hüther könnte ein abruptes Gasembargo bis zu drei Millionen weitere Menschen arbeitslos machen. Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sieht mehr Risiken als Vorteile. Zwar wäre ein Embargo auf Kohle, Öl und Gas politisch und moralisch richtig, so Fratzscher. Die Folge wäre jedoch “eine Rezession mit hoher Inflation, sinkender Realeinkommen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit“. Er hat Zweifel, dass die Menschen die spürbaren Einschränkungen im täglichen Leben mittragen würden.

Es gibt aber auch Stimmen aus der Wissenschaft, die ein sofortiges Ende der Energieimporte weniger dramatisch sehen. Die Ökonomen Moritz Schularick und Moritz Kuhn von der Uni Bonn etwa haben die möglichen Auswirkungen eines Embargos von Kohle, Öl und Gas untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass ein Importstopp fossiler Rohstoffe zwar spürbare Folgen nach sich ziehen würde, diese aber zu bewältigen seien. Ihrer Untersuchung nach würde das Bruttoinlandsprodukt kurzfristig um 0,5 bis drei Prozent zurückgehen. Für den Einzelnen würde dies Mehrbelastungen zwischen 100 und 1000 Euro pro Jahr bedeuten.

Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (ifw) hat sich mit möglichen Auswirkungen eines Energieembargos befasst. Ein Handelsembargo mit Öl hätte demnach einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in Deutschland und der EU um gerade einmal 0,1 Prozent zur Folge. Bei einem Gasembargo sagen die Modellrechnungen für Deutschland sogar eine Zunahme des deutschen Bruttoinlandsproduktes von 0,1 Prozent voraus. Die Ökonomen begründen dieses Plus damit, dass “die westlichen Verbündeten die fehlenden Importe Russlands durch Produkte der Bündnispartner ersetzen würden und hier Deutschland besonders wettbewerbsfähig ist.“ So hätte Deutschland bei energieintensiven Produktionen einen Kostenvorteil, da der Anteil an russischem Gas am Energiemix verhältnismäßig gering ausfalle, so das ifw. Die Wirtschaftsforscher haben auch die Auswirkungen von Handelsembargos der westlichen Verbündeten für das BIP Russlands modelliert. Demnach müsste Russland bei einem Gasembargo ein Minus beim BIP von 2,9 Prozent hinnehmen. Bei Öl würde das BIP um 1,2 Prozent sinken.

In einem Punkt sind sich die Wirtschaftsforscher einig: Eine Reduzierung oder ein Stopp von Kohle- und Ölimporten aus Russland stellt das kleinere Problem dar. Für diese beiden Rohstoffe gebe es genügend Anbieter auf dem Weltmarkt, auf die man ausweichen könne.

Das Argument, durch den Kauf fossiler Energieträger werde die Militärmaschinerie der Russen finanziert, wird von Experten bezweifelt. Der Angriffskrieg der Russen werde überwiegend mit selbstproduzierten Rüstungsgütern geführt, sagt etwa Marcus Matthias Keupp von der Militärakademie der ETH Zürich in einem Gespräch mit “Legal Tribune Online“. Russlands Rüstungsindustrie benötige keine Devisen, so der Militärökonom. Im Gegenteil: Als zweitgrößter Waffenexporteur trage sie sogar zur Finanzierung des Staatshaushalts bei. Nach Ansicht Keupps ist die russische Kriegsführung autark – auch wenn Deutschland und Europa kein Öl und Gas kaufen, könnte die Kriegsmaschinerie unbegrenzt weiterlaufen, so Keupp.

Ähnlich sieht das der Russland-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Janis Kluge. In einem Interview mit tagesschau.de stellt er klar, dass der Westen die Kriegsmaschinerie nicht in diesen Tagen finanziert, sondern dass Russland sein Kriegsgerät mithilfe unserer Gas- und Ölimporte bereits in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bauen und finanzieren konnte. Sollte sich der Krieg jedoch über mehrere Jahre hinziehen, sei es schon entscheidend, ob weitere Devisen durch den Kauf von Öl und Gas nach Russland fließen, mit denen neue Waffen beschafft werden können, so Kluge.

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Stand: 12.04.2022, 09:14 Uhr