Die neue Arbeiter-Losigkeit: Warum gehen Deutschland die Fachkräfte aus?

Der Faktencheck zur Sendung vom 04.04.2022

Ob Pflegekraft, Kellnerin oder Handwerker – überall fehlen in Deutschland Fachkräfte. Die Unis sind voll, der Handwerker-Markt ist leer. Und das trotz oft guter Bezahlung. Was tun? Sind Fachkräfte aus dem Ausland die Lösung, die Menschen aus der Ukraine eine Hilfe?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt während der Sendung keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Rainer Brüderle über Löhne von Pflegern und Arzthelferinnen

Rainer Brüderle findet, dass Pflegekräfte gar nicht so schlecht bezahlt werden. Immerhin gelte für sie ein Mindestlohn von 17,10 Euro. Pflegelöhne lägen um ein Drittel höher als die von Arzthelferinnen.

Betrachtet man das mittlere monatliche Bruttogehalt, ist das plausibel. Laut dem Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit liegt der mittlere Verdienst aller Pflegefachkräfte bei 3.174 Euro. Das mittlere Einkommen einer Arzthelferin oder eines Arzthelfers liegt mit 2.496 Euro deutlich niedriger. Allerdings handelt es sich hier lediglich um mittlere Werte. Der Lohn einer Pflegefachkraft kann schwanken und hängt von vielen Faktoren ab: Berufserfahrung und Verantwortung für Mitarbeiter können ebenso Einfluss auf die Vergütung haben, wie der Arbeitgeber. So liegt die Spannbreite des monatlichen Bruttogehalts im öffentlichen Dienst beispielsweise zwischen 2.376 und 6.010 Euro. Auch der Ort der Tätigkeit kann eine Rolle spielen. Das mittlere Einkommen einer Pflegefachkraft in Baden-Württemberg liegt mit 3.446 Euro deutlich über dem in Sachsen-Anhalt (2.736 Euro). Ab dem 1. September dieses Jahres gilt für Pflegefachkräfte ein Mindestlohn von 17,10 Euro. In zwei weiteren Schritten soll er bis Dezember 2023 auf 18,25 Euro ansteigen.

Janine Wissler über Jugendliche und Ausbildungsplätze

Janine Wissler sagt, jedes Jahr fänden 70.000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz.

Für das Jahr 2021 ist die Größenordnung richtig. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) beleuchtet die Situation auf dem Ausbildungsmarkt genauer. Zum Stichtag 30. September 2021 wurden in Deutschland 536.238 Ausbildungsplätze angeboten. Dem gegenüber stand eine Nachfrage an Ausbildungsplätzen von 540.882. Von den angebotenen Ausbildungsplätzen konnten die Unternehmen über 63.000 Stellen nicht besetzen. Gleichzeitig blieben laut BIBB rund 67.800 junge Menschen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz erfolglos. Im Jahr zuvor waren es noch rund 78.000.

Solche Zahlen ergeben sich unter anderem aus so genannten “Passungsproblemen“. Damit bezeichnen Arbeitsmarktforscher das Phänomen, dass Betriebe und Jugendliche nicht ausreichend zusammenfinden – aus unterschiedlichen Gründen. So gibt es etwa regionale Unterschiede. Während laut BIBB Betriebe im Osten und Süden Probleme haben, Stellen zu besetzen, mangelt es in anderen Regionen an Ausbildungsplätzen. Darüber hinaus konzentriere sich der Anteil unbesetzter Ausbildungsplätze auf bestimmte Berufe, wie zum Beispiel in der Gastronomie. Gleichzeitig verzeichnen andere Berufe viele Bewerber, von denen aber dann nicht alle zum Zug kommen. Ein weiterer Grund kann die aus Sicht der Betriebe unzureichende Qualifikation der Bewerber sein.

Hubertus Heil über Langzeitarbeitslose ohne Ausbildung

Hubertus Heil sieht in der hohen Zahl der Arbeitslosen ohne Berufsausbildung ein großes Problem. Zwei Drittel aller Langzeitarbeitslosen hätten keinen Berufsabschluss, so der Arbeitsminister.

Im Jahresdurchschnitt waren im vergangenen Jahr nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 2.613.000 Menschen ohne Beschäftigung. Das entspricht einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent. Hiervon waren 1,02 Millionen Menschen ein Jahr oder länger arbeitslos. Laut Definition gelten diese Menschen als Langzeitarbeitslose. Tatsächlich hatten zwei Drittel (608.000) von ihnen keine abgeschlossene Berufsausbildung. Eine abgeschlossene Ausbildung konnten 356.000 vorweisen, 56.000 Langzeitarbeitslose hatten eine akademische Ausbildung. Betrachtet man alle Arbeitslosen, also auch die, die weniger als ein Jahr keinen Job hatten, so lag der Anteil derer, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, im Jahr 2021 bei 20,6 Prozent.

Rainer Brüderle über Studenten und Studienfächer

Rainer Brüderle beklagt eine langjährige Fehlentwicklung. So seien an den Hochschulen heute Fächer der Natur- und Ingenieurwissenschaften schwach besetzt. Dagegen seien Fächer im sozialwissenschaftlichen Bereich stärker nachgefragt.

Das statistische Bundesamt zählte im März 2022 rund 2,95 Millionen Studenten. Rund ein Viertel von ihnen (ca. 776.000) studieren ein Fach der Ingenieurswissenschaften. Demgegenüber stehen 1,13 Millionen Studenten, die sich auf Fächer der Sozial-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften verteilen. So groß, wie Rainer Brüderle es suggeriert, ist der Unterschied zwischen Studierenden, die Ingenieur werden möchten und denen die ein sozialwissenschaftliches Studium absolvieren also gar nicht. Mit rund 316.000 studieren deutlich weniger junge Menschen Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer.

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Stand: 05.04.2022, 11:29 Uhr