Respekt für Rentner oder Wahlgeschenk: Was bringt die neue Grundrente?

Der Faktencheck zur Sendung vom 11.02.2019

Ein Arbeitsleben lang Niedriglohn, dann die Armutsrente: Müssen Millionen Bürger davor Angst haben? Helfen die neuen Renten-Vorschläge von SPD-Sozialminister Heil gegen Altersarmut? Oder sind das Wahlgeschenke für Alte, gezahlt von den Jungen?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Johannes Vogel über die Grundrente

Johannes Vogel (FDP) hält die Pläne von Hubertus Heil zur Grundrente für ungerecht. Er sagt, es könne durchaus Fälle geben, in denen jemand, der 35 Jahre Teilzeit gearbeitet habe, am Ende exakt dasselbe bekommt, wie jemand, der 35 Jahre Vollzeit gearbeitet hat. Wie gerecht kann eine Grundrente nach dem Modell Heil sein?

"Eine Anzahl von Versicherungsjahren als Voraussetzung für eine Rente zu definieren, ist für das Rentenrecht nicht ungewöhnlich", sagt Dr. Tim Köhler-Rama. Köhler-Rama lehrt an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und ist spezialisiert auf den Bereich Sozialversicherungen. Je nach Rentenart betrage die Wartezeit für einen Rentenanspruch schon heute zwischen fünf und 45 Jahren, so Köhler-Rama. Bei der Grundrente seien es 35 Jahre. Irgendeine Grenze müsse gesetzt werden, so der Experte. “Tatsächlich würden auch Teilzeitkräfte unter diese Regelung fallen, weil sie ebenfalls Pflichtbeiträge aufweisen“, sagt Köhler-Rama. Vor allem Frauen würden profitieren, da sie häufig aufgrund schlechter Kinderbetreuungsmöglichkeiten unfreiwillig in Teilzeit arbeiten.

Dabei wäre nach Ansicht des Rentenexperten die Grundrente im Rentensystem nicht systemfremd, "denn das Rentensystem ist traditionell nicht ausschließlich vom Äquivalenzprinzip – also hoher Beitrag = hohe Rentenleistung -, sondern vor allem von dem Prinzip des sozialen Ausgleichs geprägt", erklärt Köhler-Rama. Seit ihrem Bestehen sei die gesetzliche Rentenversicherung vor allem auch eine Risikoversicherung, die der Absicherung sozialer Risiken wie Invalidität, Ausbildungs- und Arbeitslosigkeitszeiten, sowie Zeiten der Kindererziehungs- oder Pflegezeiten dient, so Köhler-Rama. "Für all diese Risiken werden Rentenleistungen bezahlt, ohne dass diesen Leistungen individuelle Beitragszahlungen des Versicherten gegenüberstehen", sagt der Experte für Sozialversicherungen.

Auch die Aufwertung von Beitragszeiten mit geringer durchschnittlicher Entgeltpunktezahl sei im Rentensystem nicht neu: "So gibt es die sogenannte 'Rente nach Mindesteinkommen' im Rentenrecht schon seit 1972. Für Beitragszeiten ab 1992 wurden sie allerdings wieder abgeschafft. Die Grundrente von Hubertus Heil würde sie auf gewisse Weise wiederaufleben lassen", sagt Köhler-Rama. Seiner Ansicht nach ist es auf jeden Fall bedarfsgerecht, das an Bedeutung zunehmende Risiko eines Niedriglohnbezugs im Rentenrecht zu berücksichtigen.

Hubertus Heil über Unternehmen und Tarifbindung

Hubertus Heil (SPD) wünscht sich wieder mehr Tarif-Beschäftigung in Deutschland. Er sagt, nur noch 47 Prozent der Unternehmen seien tarifgebunden.

Die Zahl ist nicht korrekt. Möglicherweise aber hat Hubertus Heil die Zahlen der Beschäftigten, für die Branchentarifverträge gelten, mit der Zahl der Unternehmen, die branchentarifgebunden sind, verwechselt. Laut aktuellstem Betriebspanel, einer repräsentativen Arbeitgeberbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), sind nur noch 25 Prozent aller Betriebe in Deutschland an einen Branchentarifvertrag gebunden. Hinzu kommen zwei Prozent, die ihre Beschäftigten über einen Haustarifvertrag bezahlen. Im Umkehrschluss bedeutet dies nach Angaben des IAB, dass im Jahr 2017 nur noch 47 Prozent aller Beschäftigen in Deutschland einen Job mit Branchentarifbindung hatten. Weitere acht Prozent wurden nach Haustarifvertrag bezahlt. Laut IAB verliert die Tarifbindung der Betriebe und damit auch die Bedeutung von Tarifverträgen für Beschäftigte seit Jahren an Bedeutung. Besonders in Ostdeutschland würden Betriebe ihre Beschäftigten lieber unabhängig von Tarifverträgen bezahlen, so das IAB.

Johannes Vogel über Bedürftigkeit

Johannes Vogel sagt, 97 Prozent derer, die einen Anspruch auf eine Grundrente hätten, seien überhaupt nicht bedürftig. Ist das plausibel?

Dass 97 Prozent der möglichen Grundrentenbezieher nicht bedürftig seien, ist für Tim Köhler-Rama nicht nachvollziehbar. Hierzu gebe es keine Statistik und keine wissenschaftlichen Studien, so der Experte. “Woher soll man wissen, wie viel Vermögen oder sonstige Einkommen diejenigen Versicherten aufweisen, die in ihrem Rentenkonto über 35 Beitragsjahre verfügen?“, fragt sich Köhler-Rama. Von der Rentenversicherung könne es darüber keine Statistik geben, weil die Rentenversicherung die Bedürftigkeit ihrer Versicherten nicht überprüft. “Die Rentenversicherung ist kein Sozialamt“, stellt der Experte klar.

Auf 97 Prozent kommt Johannes Vogel offenbar, weil er Zahlen von Bezugsberechtigten, über die vor der offiziellen Vorstellung des Grundrentenkonzepts in Presseberichten spekuliert worden war, mit der Zahl, die Hubertus Heil bei der Vorstellung seiner Grundrente selbst genannt hat, ins Verhältnis gesetzt hat. Bevor die Pläne Heils öffentlich gemacht wurden, wurde unter anderem in der FAZ darüber berichtet, dass das Arbeitsministerium in einer seiner Modellrechnungen mit 130.000 Anspruchsberechtigten rechne. Grundlage dieser Zahl war ein Modell, das höhere Freibeträge bei der Grundsicherung vorgesehen hat und anspruchsberechtigten Rentnern rund 100 Euro mehr gebracht hätte. Eine Bestätigung dieser Zahl durch das Arbeitsministerium gab es nicht. Von dem Grundrentenmodell, das Hubertus Heil dann aber vorgestellt hat, sollen bis zu vier Millionen Menschen profitieren. Johannes Vogel aber geht weiter von den in der Presse genannten 130.000 Bedürftigen aus und rechnet vor, dass die restlichen 3,87 Millionen (97 Prozent) nicht bedürftig seien.

Zwar liege der Anteil der Menschen oberhalb der Altersgrenze, die Grundsicherung im Alter beziehen, bei rund drei Prozent“, sagt Köhler-Rama. Dies bedeute aber nicht, dass 97 Prozent der Altersrentner nicht bedürftig seien, stellt der Experte klar. “Schätzungen des Wirtschaftsforschers Peter Haan (DIW) und der Verteilungsforscherin Irene Becker, weisen einen Anteil von rund 70 Prozent derjenigen Älteren aus, die einen Anspruch auf Grundsicherung haben, ihn aber aus Scham oder Unwissenheit nicht geltend machen“, sagt Köhler-Rama. Das bedeute, dass auf jeden der derzeit rund 500.000 Bezieher von Grundsicherung im Alter etwa zwei ältere Personen kommen, die ebenfalls einen Anspruch auf Grundsicherung hätten, ihn aber nicht beanspruchen, so der Rentenexperte. Für ihn ist darüber hinaus die Lesart von Altersarmut ein wichtiger Punkt. “Altersarmut wird gemeinhin in der Wissenschaft nicht anhand des Anteils der Grundsicherungsbezieher (Grundsicherungsquote) gemessen, sondern an dem Anteil der Älteren, die mit ihrem Haushaltseinkommen unterhalb der Armutsgrenze liegen“, erklärt Köhler-Rama. Je nach Datengrundlage liege dieser Anteil bei 15-20 Prozent. “Die tatsächliche Altersarmut ist also deutlich höher als sie durch die Grundsicherungsquote ausgewiesen wird.“

Stand: 12.02.2019, 10:01 Uhr