Überlastet, überfordert, zu lasch – Was läuft schief bei den Gerichten?

Der Faktencheck zur Sendung vom 19.02.2018

Justiz in der Kritik: Liegt es an mangelnder Ausstattung oder falscher Einstellung, wenn Terrorverdächtige freikommen, Kinderschänder ohne Aufsicht bleiben, Verfahren versanden? Und stimmt der Vorwurf: Es wird zu viel an die Täter gedacht, zu wenig an die Opfer?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Jens Gnisa über Sicherungsverwahrung und sexuellen Kindesmissbrauch

Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, sagt, verurteilte Kinderschänder seien überproportional häufig in Sicherungsverwahrung. So sitze ein Fünftel aller Sicherungsverwahrten wegen sexuellen Kindesmissbrauchs ein. Dagegen betreffe nur jedes vierhundertste Urteil dieses Delikt.

Das ist richtig. 2016 (März) waren in Deutschland 540 Personen in Sicherungsverwahrung. 118 Personen - und damit gut ein Fünftel - saßen wegen sexuellem und schwerem sexuellen Missbrauch an Kindern (§§ 176 und 176a) ein. Insgesamt wurden 2016 an deutschen Gerichten laut statistischem Bundesamt rund 738.000 Urteile gegen Straftäter erlassen. 1.817mal erging ein Urteil wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Das ist tatsächlich rund ein Vierhundertstel der gesamten Urteile. Deutlich höher ist die Zahl der Ermittlungs- und Strafverfahren, die im Jahr 2016 wegen Kindesmissbrauchs eingeleitet wurden. Die Polizeiliche Kriminalstatistik zählte über 12.000 Fälle.

Für die hohe Diskrepanz zwischen den Zahlen der PKS und der tatsächlich ergangenen Urteile gibt es laut Prof. Jörg-Martin Jehle, Rechtswissenschaftler und Kriminologe an der Universität Göttingen, eine Reihe von plausiblen Gründen: “Eine Anzeige begründet zunächst nur einmal einen Tatverdacht. So kann es sich herausstellen, dass das merkwürdige Verhalten eines Kindes gar nichts mit sexuellem Missbrauch, sondern mit anderen Störungen in der Familie zu tun hat oder dass die Aussage des Opfers mehrere Jahre nach der angeblichen Tat nicht glaubhaft erscheint“, erklärt der Experte für Strafrecht. Darüber hinaus komme es zu unterschiedlichen Zahlen, wenn ein Tatverdächtiger mehrere Delikte an einem Opfer bzw. mehreren Opfern verübt hat und diese Delikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik einzeln gezählt werden. Die Verurteilungsstatistik hingegen registriere nur den verurteilten Straftäter. “So werden aus vielen Fällen eine wegen sexuellen Missbrauchs verurteilte Person“, sagt Jehle. Nicht zuletzt verweist der Rechtswissenschaftler darauf, dass der sexuelle Missbrauch ein sehr weiter Tatbestand sei und viel mehr als nur Vergewaltigungen von Kindern erfasse. “Diese stellen nur eine kleine Minderheit der Fälle von sexuellem Missbrauch dar. Bei einem Großteil der Fälle handelt es sich um männliche Jugendliche, die mit einem z.B. 13-jährigen Mädchen sexuelle Kontakte haben und von deren Eltern dann angezeigt werden. Auch wenn die Handlungen einverständlich waren, sind die Jugendlichen dennoch strafbar, weil es bei Kindern unter 14 Jahren auf das Einverständnis zu Recht nicht ankommt“, erklärt Jehle.

Roman Reusch über jugendliche Intensivtäter in Berlin

Roman Reusch (AfD) sagt, in Berlin hatte schon vor zehn Jahren mit bis zu 70 Prozent ein Großteil der jugendlichen Intensivtäter einen Migrationshintergrund.

Das ist zumindest für Gewaltdelikte richtig. Zu diesem Ergebnis kam 2007 eine von der "Landeskommission Berlin gegen Gewalt" eingerichtete Arbeitsgruppe. Die Forscher zählten für das Jahr 2006 424 Intensivtäter im Alter zwischen 14 und 21 Jahren. Drei Viertel dieser Intensivtäter hatten demnach einen Migrationshintergrund, so die Ergebnisse der Untersuchung. Das Fazit damals: „Damit sind die Intensivtäter mit Migrationshintergrund weit überdurchschnittlich am Gesamtaufkommen der Intensivtäter beteiligt.“ Nach Ansicht der Autoren stellten besonders Intensivtäter mit Migrationshintergrund aus arabischen Ländern im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil die problematischste Gruppe dar.

Julian Reichelt über Wiederholungstäter

Der Chefredakteur der BILD-Zeitung, Julian Reichelt, sagt, die Mehrzahl der Missbrauchsdelikte werde von Wiederholungstätern begangen.

"Das ist falsch!", sagt Prof. Jörg-Martin Jehle. "Dies ergibt sich einmal schon daraus, dass jeder Wiederholungstäter auch ein Ersttäter gewesen sein muss", so der Rechtswissenschaftler. Vor allem aber sei die einschlägige Rückfallgefahr bei Sexualstraftätern – entgegen dem landläufigen Vorurteil – relativ niedrig, erklärt Jehle. "Nach der bundesweiten Legalbewährungsuntersuchung werden weniger als zehn Prozent der wegen sexuellem Missbrauch Verurteilten innerhalb von neun Jahren wegen eines erneuten sexuellen Missbrauchs wieder verurteilt." Unter dieser kleinen Minderheit befinden sich laut Jehle die so genannten Kernpädophilen, bei denen in der Tat eine hohe Rückfallgefahr besteht.

Jens Gnisa über härtere Strafen und Kriminalität

Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, sagt, härtere Strafen – wie sie vielfach gefordert werden - sorgen nicht automatisch für weniger Kriminalität. Stimmt diese Einschätzung?

“Ja“, stimmt der Rechtswissenschaftler Prof. Jörg-Martin Jehle zu. Besonders gelte dies für so genannte tatbereite Wiederholungstäter. Der Experte nennt als Beispiel den Wohnungseinbruch, für den der Gesetzgeber in der Vergangenheit die Strafandrohung in mehreren Stufen erhöht habe. “Die Zahlen des Wohnungseinbruchs sind aber davon völlig unabhängig wellenförmig einmal gestiegen, einmal zurückgegangen. Die Vorstellung, ein tatbereiter Wohnungseinbrecher würde sich davon abhalten lassen, wenn ihm eine Freiheitsstrafe von vier Jahren droht, den Wohnungseinbruch aber begeht, wenn er nur zweieinhalb Jahre zu erwarten hat, geht an der Wirklichkeit vorbei“, sagt der Rechtswissenschaftler. Was ihn abhalten könne, sei das Risiko, entdeckt und bestraft zu werden und damit die Vorteile seiner Tat zu verlieren, sagt Jehle.

Jens Gnisa über Jugendkriminalität

Jens Gnisa sagt, anders als die weit verbreitete Meinung, sei die Jugendkriminalität in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Stimmt das?

"Ja", sagt auch Prof. Jörg-Martin Jehle. “Tatsächlich ist die Zahl der jugendlichen (14- bis 17-Jährige) und heranwachsenden (18- bis 20-Jährige) Tatverdächtigen deutlich zurückgegangen.“ Dies gelte auch, wenn man den Anteil der Tatverdächtigen auf die entsprechenden Altersgruppen in der Wohnbevölkerung bezieht, also Tatverdächtige pro 100.000 Einwohner, so Jehle. Ein Rückgang sei darüber hinaus auch bei den gerichtlich Abgeurteilten zu beobachten, sagt der Experte. Zahlen aus den Polizeilichen Kriminalstatistiken bestätigen das: Wurden im Jahr 2006 noch rund 278.000 Jugendliche zwischen 14 und unter 18 Jahren als Tatverdächtige aufgeführt, sank die Zahl für diese Altersgruppe im Jahr 2016 auf rund 210.000. Lässt man dann noch die ausländerrechtlichen Verstöße außen vor, waren es 2016 sogar nur 173.000 Tatverdächtige.

Stand: 21.02.2018, 11:10 Uhr