Hier Freiheit leben, dort Erdogan wählen - wie passt das zusammen?

Der Faktencheck zur Sendung vom 13.03.2017

Auftrittsverbote, Nazivergleiche – Türkei und Deutschland streiten sich. Mittendrin: Die hier lebenden Deutschtürken. Warum feiern so viele  den fernen Erdogan? Welcher Frust steckt dahinter – selbst bei denen, die hier in Deutschland geboren sind?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und überprüft einige Aussagen. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Fatih Zingal über Wahlbeteiligung hier lebender Türken

Faith Zingal sagt, erst 2015 seien für die Türken in Deutschland Hindernisse abgebaut worden, die ihnen vorher die Teilnahme an Wahlen in der Türkei erschwert hatten. Vor allem dies sei der Grund für die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung der hier lebenden Türken bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015. Stimmt das?

“Die im Ausland lebenden türkischen Staatangehörigen - auch in Deutschland - durften erstmalig im Jahr 2014 nach langen Verhandlungen mit den verantwortlichen Stellen ihre Stimme im Ausland abgeben,“ erläutert Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien. “Bei dieser ersten im Ausland möglichen Wahl war die Beteiligung der türkischen Staatsangehörigen in Deutschland gering“, sagt die Expertin für deutsch-türkische Beziehungen. Eine der Ursachen hierfür sei u.a. die komplizierte Organisation der Abstimmung gewesen: So habe es nur wenige zentrale Wahlorte gegeben und die Wahlberechtigten mussten sich online registrieren lassen, um einen Termin für ihre Stimmabgabe zu erhalten. “Lag die Beteiligung bei den Wahlen 2014 bei ca. acht Prozent aller Türken im Ausland, lag sie bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 aufgrund der verbesserten Organisation bei ca. 37 Prozent aller Auslandstürken“, sagt Kizilocak. In Deutschland wählten damals 34 Prozent der wahlberechtigten Türken.

Auch der Politikwissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen, Dr. Taylan Yildiz, erinnert daran, dass sich die in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten bis 2014 erst aufwändig registrieren mussten, ehe sie ihre Stimme abgeben durften. “Diese restriktive Regelung wurde durch einen Beschluss des Hohen Wahlrates am 29. Dezember 2014 aufgehoben“, sagt Yildiz. Der deutliche Anstieg der Wahlbeteiligung im Jahr 2015 hat seiner Ansicht nach aber mehrere Faktoren. “So ist neben der rechtlichen Lockerung der Auslandswahl auch an die Wählermobilisierung und Wählerpolitisierung im Ausland durch die Parteien zu denken.“

Cem Özdemir über Wahlkampf und türkisches Recht

Cem Özdemir sagt, selbst nach türkischem Recht sei es türkischen Politikern nicht erlaubt, in Botschaften oder Konsulaten Wahlkampf zu betreiben. Hat er Recht?

Das ist richtig, sagt Taylan Yildiz. “Gemäß Artikel 10 des türkischen Wahlgesetzes - in seiner novellierten Fassung vom 13. März 2008 - ist ’Wahlpropaganda’ im Ausland unzulässig.“ Dies gelte auch für das Gelände türkischer Botschaften und Grenzübergänge. Der Hohe Wahlrat habe diese Beschränkung erst am 16. Februar 2017 bekräftigt, so der Türkei-Experte. Er gibt jedoch zu bedenken: “Allerdings gehört es zum Wesen des Ausnahmezustandes, dass die Geltungskraft von Rechtsvorschriften jederzeit durch den Willen der politischen Führung begrenzt oder gar vollständig ausgesetzt werden kann, auch dann, wenn die betroffenen Vorschriften – wie in diesem Fall – auf ihre Initiative hin eingeführt wurden.“

Auch Gülay Kizilocak gibt dem Grünen-Politiker Recht. “Mit der Gesetzesänderung von 2008 wurde den im Ausland lebenden türkischen Staatsangehörigen die Möglichkeit gewährt, in den Ländern, in denen sie leben,  ihr Wahlrecht auszuüben. Zugleich wurde mit diesem Gesetz Wahlpropaganda türkischer Politiker im Ausland eingeschränkt.“ Tatsächlich verbiete das Gesetz Wahlpropaganda an öffentlichen oder geschlossenen Orten im Ausland sowie an den Grenzübergängen, einschließlich der ausländischen Vertretungen der Türkei. Diese Regelungen würden jedoch umgangen, so die Expertin: “Die bisherigen öffentlichen Auftritte der türkischen Politiker in Deutschland, vor allem ab 2014, wurden daher zumeist nicht als Wahlauftritte angekündigt, sondern erfolgten unter Bezug auf unterschiedliche Anlässe jenseits einer Wahl.“

Fatih Zingal über Live-Schalten von Erdogan

Fatih Zingal versteht nicht, warum dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan verboten wurde, sich per Live-Schalte an seine Anhänger in Deutschland zu wenden, dies einem Führer einer Terrororganisation bei einer Versammlung von Kurden jedoch nicht verwehrt worden sei.

Fatih Zingal bezieht sich zum einen auf eine Kundgebung im vergangenen Jahr in Köln. Nach dem Putschversuch in der Türkei versammelten sich tausende Menschen, um für den türkischen Präsidenten Erdogan und gegen den versuchten Staatsstreich zu demonstrieren. Eine geplante Live-Schaltung des türkischen Präsidenten war sowohl vom Verwaltungs- als auch vom Oberverwaltungsgericht Köln untersagt worden. Zur Begründung hieß es, das Versammlungsrecht sei nicht dafür da, ausländischen Regierungen eine Plattform für politische Stellungnahmen zu bieten. Diese Auffassung wurde auch vom Bundesverfassungsgericht gestützt. Das Verbot stieß bei den Erdogan-Anhängern auf großes Unverständnis. Unter anderem auch deshalb, weil dem Chef der PKK-Nachfolgeorganisation KONGRA-GEL, Murat Karayilan, solche Live-Schalten bei früheren Veranstaltungen kurdischer Aktivisten nicht verboten worden waren. Ebenso wie die PKK, die in Deutschland seit 1993 verboten ist, steht auch der KONGRA-GEL auf der Liste der Terrororganisationen der EU und den USA. Mehrfach wandte sich Karayilan bei Versammlungen per Videobotschaft an kurdische Aktivisten. Beim kurdischen Kulturfestival 2011 in Köln hielt er per Live-Schaltung aus den nordirakischen Kandil-Bergen vor mehreren Zehntausend Menschen eine Rede. Ein Jahr später rief er laut Verfassungsschutzbericht in einer Videobotschaft bei einer Veranstaltung in Mannheim Kurden zum aktiven Kampf auf. Offiziell begannen die Türkei und die PKK erst Ende 2012 mit ersten Friedensbemühungen. Der Prozess gestaltete sich jedoch als äußerst schwierig. 2015 setzte der türkische Staatspräsident Erdogan den Friedensprozess mit der PKK aus.

Fatih Zingal über das Präsidialsystem

Fatih Zingal sagt, die Idee für eine Präsidialdemokratie sei keine Erfindung von Erdogan. Schon vorher hätten türkische Präsidenten wie Demirel und Özal für eine entsprechende Verfassungsänderung geworben. Stimmt das?

“Die Idee zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei wurde 1993 von Turgut Özal und danach von seinem Nachfolger Süleymann Demirel geäußert. Das ist soweit richtig“, sagt Taylan Yildiz. Er schränkt jedoch ein, dass weder Özal noch Demirel aktiv hierfür geworben hätten. “Ihre Ideen haben sich nicht in die Nähe eines abstimmungsreifen Vorschlages entwickelt. Sie sind öffentliche Diskussionsimpulse geblieben. Im Grunde also etwas völlig anderes als das Referendum und insofern auch nicht vergleichbar.“ Zudem sei zu beachten, dass sich das aktuelle Vorhaben auch in inhaltlicher Hinsicht nicht mit den Vorstellungen von Özal und Demirel deckt, wie Fatih Zingal suggeriert, so Yildiz. “Besonders Özal begründete seine Idee mit den Vorteilen des US-amerikanischen Regierungssystems und gab vor, an der Etablierung klarer checks und balances interessiert zu sein, deren Mangel er konstatierte.“ Der vorliegende Vorschlag dagegen laufe auf eine weitere Entmachtung des Parlaments und auf die Schwächung der Justiz hinaus, sagt Yildiz.

Stand: 14.03.2017, 09:44 Uhr