Einheit? Sie pfeifen drauf! Was ist da los, Brüder und Schwestern?

Der Faktencheck zur Sendung vom 10.10.2016

Pfiffe, Pöbeleien und hemmungslose Politiker-Verachtung. Woher kommt die Wut auf unser System, die Verrohung im Umgang? Gibt es im Osten ein Demokratiedefizit - oder sind wir in West und Ost eigentlich zwei Völker?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

André Poggenburg über Theo Waigel am Galgen

André Poggenburg (AfD) erinnert daran, dass es schon früher Demonstrationen gab, auf denen Politiker von Demonstranten symbolisch an einen Galgen gehängt wurden – so auch Theo Waigl im Jahr 1977.

Zwar stimmt die Jahreszahl nicht, richtig aber ist, dass Studenten 1997 vor dem Düsseldorfer Landtag mit an Galgen aufgehängten Stoffpuppen gegen das Hochschulrahmengesetz demonstrierten. Auf den Puppen standen die Namen des damaligen Bundesfinanzministers Theo Waigel, Jürgen Rüttgers – damals Bundesbildungsminister – und Helmut Kohl.

Armin Laschet über Dresden und Pegida

Armin Laschet (CDU) wundert sich, dass es besonders in Dresden, das seiner Ansicht nach besonders von der Deutschen Einheit profitiert hat, so viele Menschen gibt, die der "Pegida" nahe stehen. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern spiele die "Pegida" -Bewegung kaum eine Rolle. Hat er Recht?

“Tatsächlich spielt die PEGIDA-Bewegung in anderen Bundesländern – Ost wie West! – eine geringere Rolle“, sagt Dr. Irina Mohr. “Nach anfänglicher Mobilisierung gab es dort eine starke Vereinnahmung durch offen rechtsextreme Akteure, was die Zustimmungsraten zu den Ablegern, den diversen –GIDAs, stark reduzierte.“ Dass Dresden besonders anfällig ist, hat nach Ansicht der Expertin auch historische Gründe. “Dazu gehört eine insgesamt verbreitete rechtskonservative Grundstimmung, ein stark bevormundender Regierungsstil sowie eine eher schwach ausgeprägte zivilgesellschaftliche Gegenmacht gegen rechte Umtriebe.“ Ein weiterer historischer Grund sei das seit langem geförderte Empfinden, Dresden sei durch die Bombardierung am 13. Februar 1945 ein Hauptopfer des Zweiten Weltkriegs. “Die Nazi-Aufmärsche am 13. Februar wurden lange eher nach links problematisiert, Gegendemonstranten pauschal als Linksextreme diffamiert.“

Rechtsextreme Straftaten seien zwar hart bekämpft worden, sagt Mohr, allerdings werde kritisiert, dies habe nicht für die sich ausbreitenden Subkulturen gegolten. “So konnten sich vor allem in Ostsachsen rechtsextreme Milieus bilden, die bei den PEGIDA-Demonstrationen ca. die Hälfte der Demonstranten stellen.“ Hinzu komme eine nur schwach ausgeprägte politische Bildungslandschaft, sagt Mohr. So gebe es beispielsweise bei der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung erst seit 2004 Aufklärungsmaterial zum Rechtsextremismus. Auch in der Politik habe es Versäumnisse gegeben: “Kurt Biedenkopf, der erste Ministerpräsident, äußerste bereits 1991 die Ansicht, die Sachsen seien ’immun gegen Rechtsextremismus’. Diese Ansicht hat er seitdem immer wieder erneuert, zuletzt in einem Interview im September 2015, als er die Hooligans in Heidenau allesamt als aus Westdeutschland stammend verortete.“ Demgegenüber habe es in anderen Bundesländern durchaus heftige Gegenwehr von führenden Politikern gegeben, in Brandenburg etwa durch Regine Hildebrand und Matthias Platzeck.

"Pegida spielt vor allem in Dresden eine Rolle", sagt auch Dr. Anna Klein, Konfliktforscherin an der Universität Bielefeld. Pegida-Ableger in anderen Städten Deutschlands hätten dagegen nur sehr viel weniger Menschen mobilisieren können. Der große Zuspruch für Pegida in Dresden könnte nach Ansicht der Expertin auf das Zusammentreffen einer gering entwickelten demokratischen Kultur einerseits und einer gut organisierten rechtsextremen Szene andererseits erklärt werden. Anna Klein kritisiert: "Der Mobilisierung von Akteuren der extremen Rechten wird kaum etwas entgegengesetzt."

Michael Jürgs über fremdenfeindliche Gewalt in Ostdeutschland

Der Journalist Michael Jürgs sagt, Ostdeutschland, das gerade einmal 17 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, verzeichnet 47 Prozent aller fremdenfeindlichen Übergriffe in Deutschland.

Die Zahlen, die Michael Jürgs nennt, stammen aus dem Jahr 2014. Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Politikerin Irene Mihalic, geht tatsächlich hervor, dass damals 47 Prozent aller rassistisch motivierten Gewalttaten in Ostdeutschland registriert wurden, obwohl die neuen Bundesländer gerade einmal 17 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Im Jahr 2015 ist die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Gesamtdeutschland deutlich gestiegen. Laut Verfassungsschutzbericht wurden im vergangenen Jahr 918 solcher Taten registriert. 2014 waren es noch 512. Das entspricht einem Anstieg von 79,6 Prozent.

Iris Gleicke über Verharmlosung rechter Gewalt

Iris Gleicke (SPD) sagt, in der Vergangenheit seien in Ostdeutschland rechtsextreme Übergriffe verharmlost worden. Hat die Politik zu lange weggeschaut?

Nach Ansicht von Irina Mohr sollte dies - bei allen vorhandenen Verharmlosungstendenzen - gesamtdeutsch betrachtet werden. Nach den Vorwürfen gegen Sicherheitsbehörden, sie hätten bei ihren Ermittlungen gegen den NSU in ost- und westdeutschen Ländern trotz Hinweisen auf rechtsextremistische Hintergründe kaum ermittelt, sollte sich der Blick auf rechtsextreme Kriminalität nicht nur auf Ostdeutschland richten, so Mohr. Insgesamt habe sich das Bild der Verharmlosung allerdings schon seit 2011 gewandelt, sagt sie: “Dies begann spätestens mit der AG Fallanalyse des gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus und –terrorismus, in der nach bislang unentdeckt rechtsextrem motivierten Straftaten gesucht wurde.“ Inzwischen sei gegenüber rechtsextremer Gewalt innerhalb der Behörden wie auch der Bevölkerung eine höhere Sensibilität zu beobachten, so Irina Mohr. Für sie wäre es jedoch ein Fehlschluss, das höhere Niveau rechtsextremer Gewalt in Ostdeutschland allein auf Verharmlosungstendenzen zurückzuführen. Vielmehr lasse sich die Entwicklung mit prekären sozialen Verhältnissen und dem Gefühl sozialer Ausgrenzung in den ostdeutschen Mittelschichten erklären. Verbunden mit dem Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, biete dies dem Rechtspopulismus insgesamt einen guten Nährboden.

Armin Laschet über DDR und "Erziehungsdefizite"

Armin Laschet macht das kommunistische System der DDR mitverantwortlich dafür, dass Menschen im Osten anfälliger für eine Radikalisierung sind. Sie hätten ein "Erziehungsdefizit", da die DDR das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen eher behindert habe. Ist der Zusammenhang plausibel?

Irina Mohr warnt vor dem Begriff “Erziehungsdefizit“. “Nach 26 Jahren Deutscher Einheit ist der Rückgriff auf den bis 1989 vorhandenen Mangel an Gelegenheiten zum direkten Kontakt mit Einwanderern, das als bewährtes Mittel zur Abbau von Vorurteilen gilt, nur noch bedingt hilfreich. Zudem werden damit Abwehrreaktionen auf die als diffamierend empfundene Aussage hervorgerufen.“ Richtig aber sei, dass die wenigen Zuwanderer in der DDR isoliert waren und es keine Überlegungen zu ihrer Integration gab, so die Expertin. “Dazu kommt, dass im politischen System der DDR eher auf Gleichheit als auf Vielfalt hingearbeitet wurde, Diversität und Differenz nicht als positiv wahrgenommen wurden.“

Empirische Befunde zeigen laut Mohr, dass Ostdeutsche insgesamt stärker fremdenfeindlich eingestellt sind, weil sie stärker zu Autoritarismus neigen, der sich gegen diejenigen richtet, die von einer vermeintlich von der Mehrheit gesetzten Norm abweichen. Hinzu komme ein insgesamt stärkeres Misstrauen gegenüber Politikern und Parteien. Zum Teil seien diese Tendenzen allerdings rückläufig und relativieren sich, wenn man das Alter der Befragten berücksichtigt: “So stellen sich die Werte für Autoritarismus bei den unter 30-jährigen in Ost und West als gleich dar.“ Ein positives Indiz für demokratische Lernprozesse sei auch das gestiegene Niveau des ehrenamtlichen Engagements, das sich sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland stark erhöht habe, erklärt Mohr. “Es bleibt zu hoffen, dass diese Tendenzen gegen den wirklich auffälligen Mangel in der ostdeutschen politischen Landschaft wirken.“ Insgesamt ist der Politikwissenschaftlerin die gesellschaftliche Reaktion auf Rechtsextremismus allerdings noch zu passiv.

Die Wissenschaft betrachtet die Entwicklung des Rechtsextremismus und rechtsextremer Einstellungen in Ostdeutschland laut Anna Klein auf Grundlage von Sozialisations- und Situationsfaktoren. Während sich Sozialisationsfaktoren auf das Aufwachsen in einem autoritären Regime beziehen, stehen bei den Situationsfaktoren die heutigen Lebensumstände – zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Teilhabechancen und der Zugang zu Bildung – im Fokus, so Klein. "Beide Aspekte spielen bei der Erklärung des Rechtsextremismus eine Rolle", erklärt die Expertin. Sie betont aber: "Es ist jedoch an dieser Stelle sehr wichtig zu erwähnen, dass rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung keineswegs ein ostdeutsches Phänomen sind." Die "Mitte-Studie" der Friedrich-Ebert-Stiftung zeige, dass die Zustimmungswerte für rechtsextreme Einstellungen in Westdeutschland immer wieder ähnlich hoch sind, wie in Ostdeutschland. Hierzu zählten beispielsweise Einstellungen zur Verharmlosung des Nationalsozialismus, zum Antisemitismus und zur Befürwortung einer Diktatur. Allerdings wird ausländerfeindlichen Aussagen in Ostdeutschland häufiger zugestimmt, so Klein.

Stand: 20.09.2016, 14:05 Uhr