Fluchtpunkt Deutschland – hat Merkel ihre Bürger überfordert?

Der Faktencheck zur Sendung vom 05.09.2016

Vor einem Jahr öffnete Deutschland die Grenze– es kamen eine Million Flüchtlinge. Gibt es jetzt weniger Sicherheit, mehr  begründete Angst vor den Fremden? Und wenden sich deshalb manche Bürger den Rechten zu? Oder ist das Land am Ende stärker, als viele Verzagte glauben?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Herfried Münkler über Flüchtlinge in Mecklenburg-Vorpommern

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sagt, Mecklenburg-Vorpommern habe bei einer Bevölkerung von 1,6 Millionen gerade einmal 27.000 Flüchtlinge aufgenommen. In Relation zur Bevölkerung also weniger als manch anderes Bundesland. Hat er Recht?

"Im Jahr 2015 wurden laut Zahlen des Landes Mecklenburg-Vorpommern in dem Bundesland insgesamt gut 27.000 Flüchtlinge im EASY-System registriert. Die von Herrn Münkler genannte Zahl ist also realistisch", sagt Dr. Susanne Worbs, Migrationsforscherin beim BAMF. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass die Bevölkerungszahl bei der Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer nicht als einziges Kriterium heran gezogen wird. "Nach der Registrierung werden die Asylsuchenden in Deutschland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer weiterverteilt. Dieser Schlüssel setzt sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundeslandes zusammen", erklärt Worbs. Auf Grundlage dieses Verteilschlüssels schneidet Mecklenburg-Vorpommern laut Susanne Worbs sogar gut ab: "Im Jahr 2015 wurden hier 18.851 Asylerstanträge und im Jahr 2016 (Januar bis Juli 2016) 5.400 Asylerstanträge gestellt. Zusammen mit der wesentlich geringeren Zahl von Folgeantragstellern - in dem genannten Zeitraum in Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 759 Personen - kommt man auch bei dieser Lesart in etwa auf den von Herrn Münkler genannten Wert."

Nach dem Königsteiner Schlüssel habe Mecklenburg-Vorpommern für 2015 seine Quote damit sogar "übererfüllt", so Worbs. Der Anteil der nach Mecklenburg-Vorpommern verteilten Erstantragsteller hätte bei 2,04 Prozent liegen müssen, faktisch lag er bei 4,27 Prozent, so die Expertin des BAMF. Für 2016 – inklusive Juli – liege der Anteil an allen Asylantragstellern zwar mit 1,15 Prozent unter der vom Konigsteiner Schlüssel vorgegebenen Quote von 2,01 Prozent. Durch einen langfristigen Ausgleichsmechanismus seien jedoch jährliche Schwankungen möglich, so Worbs. Ihr Fazit: "Es gibt also keine Anhaltspunkte, dass Mecklenburg-Vorpommern besonders wenige Flüchtlinge aufnimmt." Würde man nur die Bevölkerungszahl als Bezugsgröße zugrunde legen, wären in Mecklenburg-Vorpommern mit einem Anteil von 1,17 Prozent mehr Asyl-Erstanträge bezogen auf die Gesamtbevölkerung gestellt worden, als in manch anderem Bundesland, so die Expertin.

Umfrage über Zustimmung zur Flüchtlingsaufnahme

Gesine Schwan (SPD) kann im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise keine gespaltene Gesellschaft erkennen. Umfragen zeigten, dass sich eine große Mehrheit für die Aufnahme von Flüchtlingen ausspreche.

In Umfragen wird immer wieder deutlich, dass sich eine Mehrheit der Deutschen für die Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht, wenn sie von Krieg oder Verfolgung bedroht sind. Eine Befragung des Sozioökonomischen Panels kam im Mai dieses Jahres zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Befragten die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen befürworten. Mit 55 Prozent sprach sich allerdings auch eine Mehrheit dafür aus, dass Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren sollen, sobald sich die Situation in den Heimatländern verbessert.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Befragung von Infratest dimap für den Hessischen Rundfunk - ebenfalls aus dem Mai dieses Jahres. Insgesamt 71 Prozent der Befragten betrachten die moralische Verpflichtung Flüchtlinge aufzunehmen als "sehr groß" und "eher groß". Trotz der Bereitschaft Flüchtlinge aufzunehmen, sinkt die Zufriedenheit mit der Flüchtlings- und Asylpolitik der Bundesregierung. Im August dieses Jahres gaben im ARD-DeutschlandTrend 65 Prozent der Befragten an, mit der Flüchtlingspolitik "weniger zufrieden" und "gar nicht zufrieden" zu sein. Nur 34 Prozent waren dagegen "sehr zufrieden" und "zufrieden".

Gesine Schwan über fehlende Strategien

Gesine Schwan vermisst auch ein Jahr nach Beginn der Flüchtlingskrise eine Strategie von Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik. Nach wie vor sei unklar, wie legale Migration nach Europa in Zukunft geregelt werden soll. Sind Deutschland und die EU tatsächlich so planlos?

Auch Johanna Günther, Politikwissenschaftlerin und Migrationsforscherin an der Uni Erlangen-Nürnberg, sieht den Bedarf für eine langfristige Strategie, die legale Einwanderung effektiv ermöglicht. "Für Deutschland – und noch mehr für die EU – gilt jedoch, dass weniger Planlosigkeit als vielmehr der Mangel an politischem Willen, Kompromissbereitschaft und Solidaritätsempfinden einer langfristig angelegten Lösung der Asyl- und Integrationsproblematiken im Weg stehen", sagt Günther. Zwar gebe es viele gute, zukunftsorientierte Ideen und Studien, die Vorschläge und Empfehlungen liefern, wie die Integration der Flüchtlinge in Deutschland gelingen kann, so die Expertin. Mehr als "Notfallkompromisse" seien bei den Verhandlungen von Bundesregierung, EU-Kommission und Europäischem Rat jedoch nicht zustande gekommen.

Das Gleiche gelte für das im Juli verabschiedete Integrationsgesetz der Bundesregierung und die im Mai 2015 beschlossene Migrationsagenda der EU-Kommission, sagt Günther. "Der bereits seit einigen Jahren immer wieder ins Gespräch gebrachte Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge beispielsweise, der insbesondere Italien und Griechenland entlasten sollte, basiert auf Freiwilligkeit und ist daher von der Kooperationsbereitschaft der einzelnen EU-Mitgliedstaaten abhängig." So seien von den vereinbarten 160.000 Geflüchteten bislang gerade einmal rund 4.500 in andere EU-Staaten umgesiedelt worden, sagt Günther. Und auch bei der Umsiedlung von 22.000 Flüchtlingen aus Ländern außerhalb der EU, die auf EU-Staaten verteilt werden sollten, hinke man hinterher. Bei nicht einmal der Hälfte sei dies bis heute gelungen, so Günther.

Auch bei der Integration von Flüchtlingen vermisst Johanna Günther eine langfristige und lösungsorientierte Strategie. "Es kristallisiert sich auf Bundesebene zunehmend ein Mangel an Pädagogen, Sozialarbeitern und psychologischen Betreuungs- und Lehrkräften heraus", so Günther. Dieser Mangel setze den Integrationsbestrebungen auf praktischer Ebene Grenzen und lasse sich nicht innerhalb eines Jahres beheben, so die Expertin.

Wolfgang Sobotka über Rechtsbruch in der EU

Nach Ansicht des österreichischen Innenministers Wolfgang Sobotka (ÖVP) begeht die Europäische Union in der Flüchtlingskrise einen permanenten Rechtsbruch. Hat er Recht?

"Herr Sobotka bleibt ein konkretes Beispiel für die angeprangerten Rechtsbrüche schuldig", sagt Johanna Günther. Es lasse sich nur mutmaßen, dass er auf den unzureichenden Schutz der europäischen Außengrenzen durch die Europäische Union und die mangelhafte Durchsetzung einer einheitlichen Flüchtlings- bzw. Asylpolitik abhebt. "Hier ist allerdings weniger die Frage, inwieweit die EU als vielmehr einzelne Mitgliedstaaten rechtsbrüchig werden oder sich zumindest unsolidarisch verhalten. Denn Entscheidungen über den Schutz der Außengrenzen sowie die Einwanderung fallen in den Bereich Justiz und Inneres und werden im Rat der EU in der Regel von den Innenministern aller Mitgliedstaaten verhandelt", sagt Günther. Hinzu komme, dass Migrationsfragen im vergangenen Jahr auf der Agenda jedes Treffens der EU Staats- und Regierungschefs immer ganz oben standen. "Damit können weder Kommission noch Europäisches Parlament im Alleingang über eine Stärkung des Schutzes der Außengrenzen entscheiden und einen europäischen Kurs bestimmen", stellt Günther klar.

"Auf der anderen Seite hat die Kommission dem Parlament im Dezember letzten Jahres ein Paket zur Stärkung des Schutzes der EU Außengrenzen als Reaktion auf den Andrang Geflüchteter vorgelegt", sagt die Politikwissenschaftlerin. Im Juli habe das Parlament die sich daraus ergebenden Pläne zur Einrichtung eines EU-Grenzkontrollsystems angenommen. Diese sehen laut Günther eine Zusammenführung der Grenzagentur Frontex und der nationalen Grenzschutzbehörden vor. "Zwar wären nationale Behörden demzufolge weiter zuständig. In Notsituationen könnte Frontex unter Druck geratene Mitgliedstaaten jedoch bei der Grenz- und Küstenwache unterstützen", erklärt die Expertin. Der Rat der EU müsse den Vorschlägen noch zustimmen. "Damit ist sicher keine umfassende Grenzschutzstrategie oder eine Neuregelung der Möglichkeiten zur legalen Einwanderung in die EU geschaffen", sagt Günther. Im Lichte dieser Entwicklung sei die Aussage von Wolfgang Sobotka dennoch schwer nachzuvollziehen.

Es gibt aber auch Stimmen, die einen konkreten Rechtsbruch erkennen. Der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter etwa bewertete das Vorgehen in der Flüchtlingskrise für den "hartaberfair-Faktencheck" vom 25.01.16 als Beschädigung des europäischen Rechtsrahmens. Es seien Fakten geschaffen worden, die europäisches Recht außer Kraft gesetzt haben, so der Politikwissenschaftler. Als Beispiel nannte er die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms (2001/55/EG) und das Dublin III-Abkommen. Und nicht nur europäisches Recht ist nach Ansicht von Oberreuter verletzt worden: “Nach Auffassung mehrerer maßgeblicher Staatsrechtler sind auch innerstaatliche Rechtsvorschriften – insbesondere Paragraf 18, Abs. 2 des Asylgesetzes - nicht beachtet worden.“

Herfried Münkler sagt, 2015 habe es neun Tötungsdelikte durch Flüchtlinge gegeben.

Das ist so nicht richtig. Das Bundeskriminalamt registrierte für das Jahr 2015 insgesamt 28 von Flüchtlingen begangene Delikte, bei denen das Opfer getötet wurde. Neun solcher Fälle wurden bislang im ersten Quartal dieses Jahres gezählt. Für beide Zeiträume gilt, dass die Opfer meist dieselbe Nationalität besaßen wie die Täter. Einschließlich versuchter Straftaten wurden zwischen Januar und März 2016 69.000 Delikte gezählt, die von Flüchtlingen begangen wurden. Der Anteil von Tötungsdelikten an den tatsächlich begangenen Straftaten lag bei 0,15 Prozent. Betrachtet man die Polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2015 ist der Anteil der Tötungsdelikte im Verhaltnis zu allen begangenen Straftaten allerdings noch geringer. Das BKA stellt in seinen Berichten klar, dass der weitaus größte Teil der Zuwanderer keine Straftaten beging.

Stand: 30.08.2016, 15:09 Uhr