Mann guckt auf Laptop mit chinesischer Flagge und Bild von Ai Weiwei

Interview mit Lorenz Lorenz-Meyer

China: Micro-Blogs gegen die Zensur

Stand: 02.08.2011, 00:01 Uhr

Während sich europäische Netzaktivsten um Datenschutz und Klarnamenzwang sorgen, kämpfen chinesische gegen einen mächtigen Zensurapparat. WDR.de sprach mit Lorenz Lorenz-Meyer über Chancen und Grenzen eines "chinesischen Frühlings".

Lorenz Lorenz-Meyer, Jahrgang 1956, lehrt Online-Journalismus mit dem Schwerpunkt Multimedia-Produktion an der Uni Darmstadt. Seit Jahren erforscht er die Bedingungen, Themen und Entwicklung von chinesischen Online-Medien.

WDR.de: Ai Weiwei ist einer der weltweit bekanntesten chinesischen Regierungskritiker. Wie wichtig sind prominente Netzaktivisten wie er für die Chinesen?

Lorenz Lorenz-Meyer: Er spielt eine Rolle, weil die Chinesen wissen, dass er im Ausland bekannt ist. Als er verhaftet wurde, war das im chinesischen Netz deutlich sichtbar. Auch als Liu Xiaobo 2010 den Friedensnobelpreis bekam, gab es in der chinesischen Bevölkerung eine große Bewegung. Aber China ist ein riesiges Land. Viele haben thematisch ihre Provinzen im Blick und das, was dort passiert. Westliche Medien reagieren reflexartig auf einzelne Symbolfiguren, während das, was in China diskutiert wird, sehr stark von Anliegen getrieben ist. Es geht um die Wahl, um Umweltskandale oder darum, dass Milizen einen Straßenhändler zu Tode getrampelt haben. Diese Themen bringen die Menschen auf und auch auf die Straße. Es entsteht ein Spannungsgefühl, vor dem die Regierung Angst hat, nicht vor Symbolfiguren wie Ai Weiwei.

WDR.de: Welche Rolle spielen das Internet und soziale Netzwerke beim Aufbau eines solchen Spannungsgefühls?

Lorenz-Meyer: In den letzten Tagen hat man gesehen, wie mächtig etwa die chinesischen Twitter-Ableger sind - allen voran der Dienst Weibo. Nach dem schweren Zugunglück, bei dem ein Hochgeschwindigkeitszug auf einen anderen geprallt ist, hat sich sehr schnell eine große Öffentlichkeit über Microblogs auftgetan. Videos von Menschen tauchten auf, die dabei gewesen waren. Die User haben über die offizielle Stellungnahme und Aufarbeitung diskutiert. Es kam zu einer Welle der Systemkritik, die auch große Medien aufgenommen haben. Selbst das Staatsfernsehen hat kritisch berichtet. Es gab ein Fenster von mehreren Tagen, in denen über die ursprünglich aus dem Internet kommende Öffentlichkeit so etwas wie ein kritisches Bewusstsein der Schwächen einer von Korruption beherrschten Verwaltung stattfand.

Vor zwei Tagen kam dann die Gegenbewegung und die Wogen wurden mithilfe von Zensurmaßnahmen wieder geglättet. Zumindest die offiziellen Medien haben dann ihre Berichterstattung wieder auf die Parteilinie eingenordet. Aber das, was sich vorher abgespielt hatte, war bemerkenswert. Das sagen auch meine chinesischen Freunde. Die Hochgeschwindigkeitszüge sind das Transportmittel der chinesischen Mittelschicht, und wenn sich herausstellt, dass es massive Sicherheitslücken gibt, dann mobilisiert das eine kritische Öffentlichkeit, die viel größer ist als die der Dissidenten.

WDR.de: Sie sagen, dass gerade Microblogs eine wichtige Bedeutung hatten, um für Öffentlichkeit zu sorgen. Wieso?

Lorenz-Meyer: Die Kommunikation über Microblogs ermöglicht eine sehr gute Vernetzung. Die User, die sich dort gegenseitig folgen, bekommen in Echtzeit Benachrichtigungen, wenn jemand etwas schreibt. Bis die Zensurbehörden eingreifen und Beiträge löschen, hat sich eine Nachricht schon sehr weit verbreitet. Deswegen haben Microblogs die klassischen Blogs als Kommunikationsmittel abgelöst. Weibo hat inzwischen so einen Charakter wie Facebook: Es ist eine Art soziales Netzwerk, hat aber sehr leistungsfähige Mitteilungsfunktionen, bei denen man Fotos und Videos einbinden und über längere Strecken diskutieren kann. Das alles in einem sehr kompakten Format.

WDR.de: Wundert es da nicht, dass die chinesische Regierung den Dienst weiterhin duldet?

Lorenz-Meyer: Ja, chinesische Netzaktivisten haben erwartet, dass die Regierung die komplette Plattform sperrt. Aber entweder gibt es Unterstützter in der Regierung - es gibt ja durchaus reform-orientierte Flügel - oder Weibo ist inzwischen einfach zu groß, um es abzuschaffen. Schließlich verwenden es auch ganz normale, angepasste Chinesen und wenn man denen ihr liebstes Spielzeug wegnimmt, könnte das wieder eine Quelle von Unruhen sein.

WDR.de: Andere soziale Netzwerk sind in China bereits gesperrt?

Lorenz-Meyer: Twitter ist gesperrt und Google Plus, das zunächst mit Begeisterung wahrgenommen worden ist, war nur ein paar Tage offen. Die Politik der Behörden sieht vor, dass diese Dienste generell möglich sind, aber immer in Varianten, auf die sie Zugriff haben - mit Büros, in denen Chinesen sitzen, die man instruieren und unter Druck setzen kann, und Software, bei der man Filter einsetzen kann. Das sagen die Chinesen ganz offen: Wir haben unsere eigenen Gesetze und die wollen wir auch durchsetzen.

WDR.de: Sie haben die Zensur bereits angesprochen. Was sind die Werkzeuge der Regierung im Netz?

Lorenz-Meyer: Es gibt verschiedene Ebenen. Auf nationaler Ebene ist es das Propaganda-Ministerium und der Staatsrat. Relevanter sind auf regionaler Ebene aber die Zensurbehörden der einzelnen Provinzen. Die mächtigste Zensurbehörde ist sicher die der Stadtverwaltung Peking, weil die meisten überregionalen Internetanbieter in Peking sitzen. Dort läuft das operative Zensurgeschäft und von dort werden täglich Anweisungen an die Internetanbieter verschickt, in denen steht, worüber berichtet werden soll und worüber nicht. Von der Behörden gehen E-Mails und SMS auch direkt an die Redaktionen. Diese Art von Ansagen - die Netzgemeinde nennt sie nach George Orwells Roman "1984" bereits "Ministry of Truth" - werden teilweise von Whistleblowern nach außen geschmuggelt und Medien wie die amerikanische China Digital Times protokollieren diese Ansagen. Beim Zugunglück gab es etwa die Anweisung, mehr Human Interest als Sachinformationen zu bringen und keine Diskussionen über die Verantwortung des Eisenbahnministeriums.

WDR.de: Wie gehen normale User oder Netzaktivisten vor, wenn sie unbequeme Inhalte veröffentlichen wollen?

Lorenz-Meyer: Ein großer Teil der Netzkultur ist auf Linie. Und es gibt die bezahlten Agitatoren, die in die Foren reingehen und in Diskussionen die Parteilinie vertreten. Das ist ein offenes Geheimnis. Es ist eigentlich erstaunlich, dass sich Protest dennoch meist sehr offen artikuliert. Die User posten in die großen, öffentlichen Foren. Nur werden Beiträge, die bestimmte Reizwörter enthalten, meist vorab herausgefiltert und so gar nicht erst veröffentlicht. Viele verwenden deshalb andere oder ähnlich klingende Wörter, bei denen jeder weiß, wovon die Rede ist. Manche umschreiben Themen auch poetisch - für Außenstehende fast unverständlich, wissen dagegen viele Chinesen: Ah, die reden über Ai Weiwei. Das chinesische Wort für lieben ist auch "ai", wird aber anders betont. Das Wort für Zukunft bedeutet "wèilái". Eine Zeit lang waren die Foren voll mit Slogans, wie "man solle die Zukunft lieben" - so wurde der Bezug zu Ai Weiwei hergestellt. Das sind Katz- und Maus-Spielchen, die mehr den Rand der Szene betreffen. Die zentralen Themen werden direkt angesprochen und man schaut, was davon übrig bleibt. Weil die Zensur aber immer nachlegt, hat das chinesische Internet so gut wie kein Gedächtnis. Viele Themen, die tatsächlich hochgekocht sind, verschwinden unwiederbringlich.

WDR.de: Wie viele Chinesen haben Zugang zum Internet?

Lorenz-Meyer: Es gibt in China rund 485 Millionen Internetnutzer - etwa 40 Prozent der Erwachsenen. Beachtlich, wenn man sieht, was für ein armes Land China in weiten Teilen ist. Gerade für Menschen in Städten ist das Internet das Medium der Wahl. Der Anteil an mobiler Internetnutzung ist sehr groß, viele haben Smartphones und nutzen diese besonders für Services wie Weibo. In China hat man sogar überall freies Wlan, ganz anders als hier in Deutschland. Allerdings könnte sich das bald ändern: Die chinesische Regierung hat jüngst eine Verwaltungsvorschrift erlassen, wonach die Betreiber von solchen freien Wlan-Netzen gezwungen werden sollen, eine Software zu installieren, bei der sich Nutzer registrieren müssen. Noch dazu kostet die Software die Betreiber knapp 2.000 Euro Gebühr. Für viele wird das zu teuer sein, sie werden das Wlan einfach abschaffen. Außerdem ist man als Nutzer in diesen Cafés unter ständiger Beobachtung und kann dann auch nicht mehr Technologie verwenden, um die staatliche Firewall zu unterlaufen. Das tun alle westliche Experten, die ich in China kenne und auch viele Chinesen verwenden VPN, sogenannte Virtual Private Networks.

WDR.de: Sie sagten eben, kritische Öffentlichkeit wird vor allem bezogen auf konkrete Anliegen geschaffen. Ist deshalb eine ganzheitliche Demokratie-Bewegung, ein chinesischer Frühling, aus dem Netz heraus vorerst unrealistisch?

Lorenz-Meyer: Solche Prozesse hängen von vielen Faktoren ab, bis ein Schwellpunkt erreicht wird, an dem es tatsächlich eine große Bewegung wird. Offensichtlich haben die chinesischen Behörden davor Angst. Anders kann man sich die heftige Reaktion wohl nicht erklären, als sich Ende Februar, Anfang März nur rund 30 Menschen versammelt hatten und von der Straße weg verhaftet wurden. Es gibt zahlreiche Spannungherde - ethnische Konflikte, die Problematik der Wanderarbeiter sind nur zwei davon - die eskalieren könnten. Wenn es soweit kommt, wird das Netz sicher eine große Rolle spielen. Das Internet aber nun als Befreiungsmedium zu bezeichnen, das China die Demokratie bringt, wäre zu optimistisch.

Das Gespräch führte Insa Moog.