Frau tv wird 20

Stand: 04.10.2017, 12:13 Uhr

Der Fortschritt ist eine Schnecke – wenn es um die Gleichstellung geht. Seit 20 Jahren versucht »Frau tv«, das einzige deutsche TV-Magazin seiner Art, der Schnecke Beine zu machen. Christine Schilha sprach mit den beiden Moderatorinnen Lisa Ortgies und Sabine Heinrich über Déjà-vues, realitätsferne Politik, Sexismus und Wut.

Was war die letzte Situation, in der Sie dachten: 200 Jahre Frauenbewegung – und jetzt das!

Lisa Ortgies: "Als die Grundschullehrerin meines Sohnes sagte, sein Verhalten sei „geschlechtsunspezifisch“, weil er sehr ruhig, zurückhaltend, eher schüchtern ist. Auf einmal weist man wieder aufgrund des genetischen Unterschieds Geschlechterrollen zu. Umgekehrt habe ich mitbekommen, dass Mädchen, die sich auf dem Schulhof raufen beziehungsweise körperlich wehren, gleich zum Schulpsychologen geschleppt werden. Es wird wieder durch die rosa und hellblaue Brille auf die Welt geschaut."

Sabine Heinrich: "Ich habe in einer Buchhandlung Messlatten für Kinder in Rosa und Blau gesehen. Bei den Jungs stand drauf: Groß wie Zlatan Ibrahimovic oder Manuel Neuer. Die Mädchen konnten die Größe von Topmodels oder Feen erreichen. Ich habe im Moment generell das Gefühl, wir bewegen uns rückwärts, was den Sexismus angeht. Das sind oft Kleinigkeiten, die sich aber summieren. Da denke ich: Mann ey, wir waren doch eigentlich schon viel weiter."

»Frau tv« feiert sein Jubiläum den ganzen Oktober mit Themenschwerpunkten. Einer ist genau diese „Rolle rückwärts“. Warum machen sich gerade in der Youtube-Generation übelste Geschlechterrollen-Klischees wieder breit?

Ortgies: "Ich habe verschiedene Male beobachtet, wie Mädchen mit Schlampe oder Fotze angesprochen werden – das machen Mädchen sogar untereinander. Das gilt als cool. Sexismus hat es unter Jugendlichen immer gegeben. Aber das ist schon eine drastische Zuspitzung. Da macht sich so eine Gangster-Rapper-Kultur breit. Die Schulen müssen das dringend thematisieren."

Heinrich: "Vielleicht kommt es daher, dass sich viele in Sicherheit wähnen und denken: Wir sind doch gleichberechtigt, da kann man sich mal locker machen. So lassen sich dann Frauen und Mädchen vieles gefallen oder nehmen noch nicht einmal mehr wahr, dass das eigentlich gar nicht geht."

Viele Männer wie Frauen glauben tatsächlich, dass die Gleichstellung bereits erreicht ist. Was sagen Sie, wenn jemand meint, Feminismus sei überholt und »Frau tv« überflüssig?

Ortgies: "Bei einem Event hatte ich ein Gespräch mit einem Staatssekretär aus dem Familienministerium. Der meinte, das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie habe sich „doch irgendwie erledigt“. Wie weit kann man als Mitarbeiter eines Ministeriums eigentlich von der Realität entfernt sein? Wir haben die letzten 15 Jahre so viel über neue Väter, Förderprogramme, familienfreundliche Firmen und so weiter gesprochen, dass alle glauben, das Problem muss vom Tisch sein. Ich nenne das „gefühlte Gleichstellung“. Tatsächlich leben aber die meisten Familien das Modell: Der Mann ist Hauptverdiener, die Frau arbeitet Teilzeit, ist für Haushalt und Kinder zuständig und deshalb massiv von Altersarmut bedroht. Bei »Frau tv« bekommen wir das eins zu eins mit. Zwischen den ganz jungen Netzaktivistinnen und den älteren Feministinnen, die für Frauenrechte auf die Straße gingen, sind wir der Missing Link: Wir kümmern uns auch um die Frauen, die zwischen Beruf und Familie gar keine Zeit für Debatten haben."

Gehört die wirtschaftliche Abhängigkeit von Frauen zu den Themen, die »Frau tv« immer wieder aufgreifen muss, obwohl Sie es gerne mal endgültig zu den Akten legen würden?

Ortgies: "Die ist mit dem neuen Unterhaltsrecht noch mehr zu einer Armutsfalle geworden. Die Scheidungszahlen sinken – das hat vermutlich sehr unromantische Gründe. Frauen überlegen sich dreimal, ob sie gehen können. Das Gesetz geht von einer wirtschaftlichen Gleichstellung aus, die es nicht gibt. Den Deal: „Ich stecke beruflich zurück, dafür bin ich im Falle einer Scheidung abgesichert“, gibt es nicht mehr. Wenn eine Frau vor der Trennung vom Mann abhängig war, steht sie nun hinterher häufig vor dem Abgrund. Dennoch entscheiden sich nach wie vor die meisten Frauen, aus dem Beruf auszusteigen, wenn Kinder kommen, und nur in Teilzeit wieder einzusteigen. Und kaum eine sichert sich mit einem Ehevertrag ab."

In den Sozialen Netzwerken tummeln sich Männer, die auf feministische Themen mit Hohn und Aggression reagieren. 36 Prozent des »Frau tv«-Publikums ist männlich. Sind die Reaktionen dieser Männer immer freundlich?

Heinrich: "Ich habe eigentlich eher positive Erfahrungen gemacht. Ich stelle immer wieder fest, dass Feminismus auch im Interesse vieler Männer liegt."

Ortgies: "Das stimmt. Wir haben neugierige und moderne Männer als Zuschauer, die bei Paarthemen auch zusammen mit der Partnerin gucken. Da kommen gute Impulse, aber keine blöden Kommentare."

In den Jubiläumssendungen soll es „besondere Reportagen und echte Knallerfrauen“ geben – was erwartet das Publikum?

Heinrich: "Ich durfte zum Beispiel die alleinerziehende Mutter Sandra aus Köln in ihrem Alltag begleiten. Mich hat sehr beeindruckt, mit welchen Problemen sie zu kämpfen hat, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen, und wie sie das alles meistert. Und ich habe Schauspielerin Maria Furtwängler und ihre Tochter Lisa interviewt. Die beiden haben eine Stiftung gegründet und eine Studie zu Frauen und Sexismus in den Medien in Auftrag gegeben. Da wird geschaut, wie Frauen vor der Kamera eingesetzt werden, aber auch, welche Rolle sie dahinter spielen. Musikvideos wurden ebenfalls untersucht. Wenn man sich das Frauenbild im Hip-Hop anschaut, kann man nur sagen: Herzlich willkommen in den 50er Jahren!"

Womit wir wieder beim Thema "Rolle rückwärts" wären – das sind doch die Role Models…

Heinrich: "Ja, genau. Frau Furtwängler sagt übrigens, dass sie das Spiel zu Anfang ihrer Karriere auch mitgespielt hat. Wenn ein Fotograf wollte, dass sie sich sexy auf einem Bett räkelt, habe sie das gemacht. Sie hat das erst hinterfragt, als ihre Tochter mal dabei war und sagte: "Mami, warum machst du das?"

Ortgies: Das ist ja toll! Die Studie hat übrigens hohe Wellen geschlagen. Ich finde es großartig, dass da Feminismus mal aus einer unerwarteten Ecke kommt.

"Emotionale Geschichten, Aufreger und spannende Protagonisten aus 20 Jahren" verspricht die lange »Frau tv«-Nacht am 26. Oktober. Was ist Ihr persönliches Highlight?

Ortgies: "Da gab es so viel…"

Heinrich: "Die Chemo Chickas!"

Ortgies: "Ja stimmt, die waren der Knaller. Das ist auch viral gegangen. Frauen mit Brustkrebs treffen sich ja immer in denselben Räumen, wo sie auf die Chemotherapie oder irgendeine Behandlung warten, und bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Ein paar von ihnen haben sich zusammengetan und ihre eigene Sprache gefunden, um zu ihrer Situation auf Abstand zu gehen und zu sagen: Ich bin auch noch ein Mensch, ich habe auch Humor und will nicht nur über diese Krankheit definiert werden. Die Frauen haben uns die Kamera draufhalten lassen oder sich selbst gefilmt, wie sie beispielsweise am Tropf hängen und Witze über fehlende Haare und Wimpern machen. Das war so befreiend für alle – Betroffene und nicht Betroffene – und es gab eine große Sympathiewelle. Im Laufe der Jahre waren das eigentlich immer das Beeindruckendste, wenn Frauen mit ungewöhnlichen Geschichten auf uns zugekommen sind."

Heinrich: "Es ist eine große Qualität des Formats, dass »Frau tv« nicht nur sendet, sondern auch empfängt. Wir sind immer im Dialog mit den Zuschauerinnen und Zuschauern. Da ist viel mehr Nähe als bei anderen Fernsehproduktionen."

Noch immer sind Haushalt und Kindererziehung überwiegend Frauensache. Noch immer bekommen Frauen weniger Geld für die gleiche Arbeit und werden oft auf ihr Äußeres reduziert. Müssen Frauen wütender und kämpferischer werden?

Heinrich: "Frauen müssen aufhören, Dinge zu müssen. Für mich geht es darum, Dinge zu hinterfragen. Ob Wut die Waffe der Wahl ist, weiß ich nicht. Ich wünsche mir eher Maß und Beharrlichkeit."

Ortgies: "Ich bin da durchaus ungeduldiger, weil ich mir die Entwicklung nun schon 20 Jahre anschaue. Wenn es in dem Schneckentempo weitergeht, dann werden wir vielleicht in 200 Jahren Familienarbeit und Lohn und Führungsjobs gerecht verteilt haben. Frauen sagen zwar ihre Meinung und solidarisieren sich, andererseits funktionieren sie weiter und resignieren zu oft bei Benachteiligungen. Die Gesellschaft hätte ein Problem, wenn Frauen einfach mal nicht funktionieren würden, gerade in den schlecht bezahlten Bereichen wie Einzelhandel, Pflege, Kinderbetreuung. Ich habe den Eindruck, es reagiert niemand, so lange man keinen Notstand schafft. Ich würde Frauen gerne Mut machen, einfach mal was gegen die Wand fahren zu lassen. Auch im Haushalt oder im Ehrenamt: Lasst die Arbeit einfach mal liegen und taucht für eine Woche ab! Damit die anderen mal mitkriegen, was ihr da alles wegschafft."

Dieser Artikel erschien zuerst in WDR print.

Text: WDR print/Christine Schilha
Fotos: WDR

Erstellt am 4. Oktober 2017