Dieter Degowski  im gekaperten Bus

"Reue spielt bei Beurteilung keine große Rolle"

Interview mit Forensiker Seifert

Stand: 14.08.2013, 14:30 Uhr

Das Landgericht Arnsberg hat am Mittwoch (14.08.2013) entschieden, dass Dieter Degowski, der Gladbecker Geiselnehmer, vorerst nicht in die Freiheit entlassen wird. Die Entscheidung folgt einer Empfehlung eines psychiatrischen Gutachters. Forensiker Dieter Seifert erklärt, wie derartige Gutachten entstehen.

WDR.de: Herr Seifert, Ihr mit dem Gladbeck-Fall befasster Kollege, Norbert Leygraf, hatte in seinem Gutachten eine zeitnahe Entlassung Degowskis abgelehnt. War damit schon klar, welche Entscheidung das Gericht fällen wird?

Dieter Seifert: So ein Gutachten ist nicht automatisch bindend für die zuständige Strafvollstreckungskammer. Wenn das Gutachten für das Gericht nicht schlüssig ist, hat es die Möglichkeit, noch andere Gutachter hinzuzuziehen. Das ist gar nicht so selten – gerade in solch prekären Fällen. Nichtsdestotrotz helfen wir mit unserem Fachwissen den Richtern, zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen. Es kommt darauf an, dass man in den Dialog einsteigt – zwischen Gericht und Psychiatrie. Das ist nicht immer ganz so einfach. Denn das sind zwei unterschiedliche Fachbereiche mit unterschiedlicher Fachsprache. Und am Ende haben die Gerichte die Entscheidungsgewalt.

WDR.de: Wie fällt man denn eine solche Entscheidung? Wie oft trifft man als Gutachter auf denjenigen, um den es geht?

Seifert: Um ein Gutachten zur Frage einer weiterbestehenden Gefährlichkeit zu erstellen, muss man vorab intensiv die Akten durcharbeiten. Man muss schließlich verstehen, wieso dieser Mensch damals genau diese Straftat begangen hat. Es ist zu prüfen, ob der Täter bereits früher ähn­liche Straftaten verübt hat, oder ob es sich um einen Menschen handelt, der bislang völlig straffrei durchs Leben gegangen ist und erst nach einer Lebenskrise straffällig wurde. Dann schaut man, wie sich so jemand im Gespräch verhält. Solche Untersuchungsgespräche können manchmal bis zu 20 Stunden dauern – natürlich nicht am Stück.

Danach heißt es einzuschätzen, wie sich der Betroffene nach der Tat weiter entwickelt hat, es beispielsweise zu einer Nachreifung gekommen ist, er sich von seinem bisherigen kriminellen Weg entfernt hat. Dafür ist der Haftverlauf dezidiert zu beleuchten, zum Beispiel: Wie ist seine jetzige Einstellung zu den Straftaten? Hat er bei einer Psychotherapie mitgearbeitet oder diese durchgehend abgelehnt? Neigt er zu Suchtmitteln wie Alkohol oder Drogen?

Schließlich sollte man sich Gedanken über den so genannten sozialen Empfangsraum machen: Wo kann er nach der Haft bleiben? Gibt es prosoziale – also quasi vernünftige – soziale Kontakt draußen. Gibt es Überlegungen, wie man seinen Tag strukturieren kann, und – was sehr bedeutsam ist - hat er selbst eine einigermaßen realistische Vorstellung davon, was ihn hinter der Mauer erwartet?

 WDR.de: Der Gutachter von Herrn Degowski soll geäußert haben, dass er intellektuell nicht therapiefähig sei. Was bedeutet das?

Seifert: Das ist sicherlich von den Medien verkürzt dargestellt worden. Natürlich kann man auch mit Intelligenzgeminderten eine Therapie machen. In einer JVA ist es aber schwieriger als im psychiatrischen Maßregelvollzug. Es gibt dort kein therapeutisches Milieu – auch wenn man sich noch so anstrengt. Knast bedeutet Sicherung und Verwahrung und zielt weniger auf die Veränderung eines Täters ab. Deswegen ist die Aussage wohl eher so gemeint gewesen, dass innerhalb einer JVA solche therapeutischen Ziele kaum erreichbar sind.

WDR.de: Spielt das Thema Reue für ein solches Gutachten eine Rolle?

Seifert: Dies wird zwar häufig so behauptet, besitzt jedoch für solche prognostische Fragestellung keine große Bedeutung. Das haben Studien gezeigt: Für die Rückfälligkeit spielt die Reue keine entscheidende Rolle, zumal es sicherlich ausgesprochen problematisch ist, "echte" von vorgespielter Reue treffsicher unterscheiden zu können.

WDR.de: Nun soll Herr Degowski innerhalb von drei weiteren Jahren auf eine mögliche Entlassung vorbereitet werden. Was passiert in dieser Zeit?

Seifert: Man versucht, gemeinsam mit ihm einen möglichen Lebensweg außerhalb der Einrichtung zu erarbeiten und danach entsprechend vorzubereiten. Denn Häftlinge haben häufig eine völlig unrealistische Einschätzung vom Leben außerhalb des Knasts. Je unrealistischer diese Einschätzung ist, desto eher scheitert man. Diese drei Jahre sollte man daher nutzen, um den Weg in die Freiheit zu planen. Dazu gehören auch schrittweise Lockerungen, damit er einen Eindruck erhält, wie das Leben draußen ist. Denn 1988 sah die Welt anders aus als heute.

WDR.de: Sind denn insgesamt die Anforderungen an eine Entlassung inzwischen höher als früher?

Seifert: Ja, es gibt eine unverkennbare Entwicklung hin zum Sicherheitsdenken. Wir Gutachter sollten im Grunde genommen frei davon sein.  Aber man muss bedenken, dass kein Gutachter gern in der Zeitung liest, dass jemand nach seinem Gutachten wieder rückfällig geworden ist. Dieses veränderte gesamtgesellschaftliche Klima hat sicherlich einen Einfluss auf die Entscheidungsfreiheit eines jeden Gutachters  – ob bewusst oder unbewusst.

WDR.de: Wie versucht man sich dagegen zu wehren, dass man eben nicht vom Interesse der Öffentlichkeit beeinflusst wird?

Seifert: Indem man das Gutachten mit Kollegen intensiv diskutiert. Und man muss sich für eine solche Einschätzung Zeit nehmen, sie mehrfach kritisch hinterfragen und vielleicht noch einmal eine Woche liegen lassen.

WDR.de: Ist denn jemand wie Herr Degowski überhaupt resozialisierbar?

Seifert: Man muss natürlich bei einem Menschen, der so in den Medien stand, einen Raum schaffen, in dem er unerkannt eingegliedert werden darf. Nichts wäre schlimmer für ihn, als in irgendeiner betreuten Wohneinrichtung zu leben und ständig von einem Fernsehteam belauert zu werden. Damit wäre wohl jeder Mensch enorm überfordert. Deshalb  braucht er später jemanden, der ihn vor solchen Sachen schützt.

WDR.de: Auch solche Straftäter brauchen also Schutz?

Seifert: Ja. Was würde es auch bringen, wenn man ihn weiterhin medial anprangern würde? Eher erhöht man dadurch seine Gefährlichkeit.  Das stünde einer gelungenen Wiedereingliederung also eher im Wege.

Das Gespräch führte Nina Giaramita.