Stichtag

10. September 1964 - Ankunft des millionsten Gastarbeiters

Im Bonner Haus der Geschichte steht ein altes Moped. Lange haben die Museumsleute nach diesem verrosteten Zweirad gesucht, denn es erinnert an einen besonderen Tag des deutschen Wirtschaftswunders. Vor 50 Jahren stand die Zündapp Sport Combinette im Bahnhof Köln-Deutz. Dahinter verkündete ein großes Banner auf Deutsch, Spanisch und Portugiesisch: Die Deutschen Arbeitgeberverbände begrüßen den 1.000.000 Gastarbeiter!

Als Jubilar ausgelost

Drei Tage ist Armando Rodrigues de Sá mit 1.200 Spaniern und Portugiesen unterwegs ins kühle Deutschland. Für alle ist es eine Reise ins Ungewisse, weg von der Arbeitslosigkeit daheim, um Geld zu verdienen. Mit 80 Minuten Verspätung läuft der Zug am 10. September 1964 auf Gleis 12 in Köln-Deutz ein. Eben ausgestiegen, hört Rodrigues aus dem Bahnsteiglautsprecher seinen Namen. Ziemlich übernächtigt gibt sich der 38-jährige Zimmermann aus Portugal zu erkennen. Man befördert ihn zu einem großen Menschenpulk, und plötzlich weiß Rodrigues überhaupt nicht mehr, wie ihm geschieht.

Fremde Männer in feinen Anzügen drängen heran, um ihm die Hand zu drücken. Fotografen entfachen ein Blitzlichtgewitter, Fernsehkameras richten sich auf ihn. Eine Blaskapelle spielt "Wem Gott will rechte Gunst erweisen" und "Alte Kameraden". Erst allmählich versteht Rodrigues, dass man aus den Neuankömmlingen ausgerechnet ihn als millionsten Gastarbeiter ausgelost hat. "Ohne die Mitarbeit der Ausländer wäre unsere Entwicklung der letzten Jahre nicht denkbar", verkündet Manfred Dunkel, Chef des Kölner Arbeitgeberverbands der Metallindustrie, der den Empfang organisiert hat. Dann überreicht er dem hageren Zimmermann aus Portugal einen Strauß Nelken und schenkt ihm die nagelneue Zündapp Sport Combinette.

Gastarbeiter als Wirtschaftsmotor

600.000 offene Stellen gibt es 1964 in der Bundesrepublik, aber nur 170.000 Arbeitsuchende. Seit das Wirtschaftswunder boomt, herrscht Überbeschäftigung. Bereits Mitte der 50er Jahre hat die Bundesregierung deshalb ausländische Arbeitskräfte angeworben. Sie kommen zunächst aus Südeuropa, ab 1961 auch aus der Türkei, Marokko und aus Südkorea. Dauerhaft bleiben sollen die "Gastarbeiter" nicht, nur tüchtig malochen und dann in ihre Heimat zurückkehren. Oder wie es ein Papier der Arbeitgeber offenherzig formuliert: "Der…Ausländer stellt in der Regel die Arbeitskraft seiner besten Jahre zur Verfügung: Für die Betriebe ergibt sich daraus der Vorteil, dass nur in seltenen Fällen ein älterer oder nicht mehr voll arbeitsfähiger ausländischer Mitarbeiter…mit durchgezogen werden muss."

Verantwortung für die Gastarbeiter zu übernehmen, sie menschenwürdig unterzubringen und ihnen den Zuzug der Familien zu ermöglichen, daran denkt in der prosperierenden Bundesrepublik zunächst noch niemand. Bis 1973 werden 14 Millionen Arbeitsmigranten ins Land geholt. 1973 dann, in der ersten Wirtschaftskrise, erlässt die Regierung einen Anwerbestopp. Elf Millionen Ausländer kehren in ihre Heimatländer zurück, darunter auch der millionste und für einen Tag gefeierte Portugiese Armando Rodrigues de Sá.

Bei einem Heimaturlaub 1970 wird bei ihm Magenkrebs diagnostiziert. Die Behandlung verschlingt alles, was er in der Fremde verdient hat. Völlig verarmt stirbt Rodrigues im Alter von nur 53 Jahren. Viele Jahre später tauchen Museumsleute bei seiner Familie auf und kaufen sein altes Moped.

Stand: 10.09.2014

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