Stichtag

09. März 2007 - Vor 50 Jahren: SED-Philosoph Wolfgang Harich wird verurteilt

"Am 7. November wurde ich zu Ulbricht bestellt", erzählt der Philosoph Wolfgang Harich später. 1956 wird ihm vom damals mächtigsten Mann der DDR eine Audienz gewährt, die das Ende für Harichs Karriere bedeutet. Der 32-Jährige leitet gemeinsam mit Ernst Bloch die Deutsche Zeitschrift für Philosophie, arbeitet als Cheflektor beim Aufbau-Verlag und hält an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Vorlesungen über Kant und Hegel. Seit der Gründung der DDR im Jahr 1949 ist Harich SED -Mitglied.Er will an vorderster Front dabei sein, wenn eine neue Gesellschaft nach den Theorien von Marx, Engels und Lenin aufgebaut wird. Doch Harich hat sich das neue Zeitalter anders vorgestellt: Kein Funktionärssozialismus, kein Stalinismus, wie ihn Walter Ulbricht verkörpert. Harich will vielmehr ein einheitliches Deutschland mit Arbeiterräten und Selbstbestimmung in den Betrieben. Der Sieg des Sozialismus in Westeuropa soll durch eine Verschmelzung von SPD und entstalinisierter SED herbeigeführt werden.

Harich wird mit seinen Ideen und seinem rhetorischen Talent rasch zur zentralen Figur eines Diskussionszirkels beim Berliner Aufbau-Verlag, zu dem Verlagsleiter Walter Janka, der Philosoph Manfred Hertwig und der Wirtschaftswissenschaftler Bernhard Steinberger gehören. Als Nikita Chruschtschow im Februar 1956 auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit Stalin und seinen Verbrechen abrechnet, geht Harich in die Offensive und fordert in einem 50-seitigen Konzept Ulbrichts Ende: Voraussetzung für die "Wiedervereinigung der deutschen Arbeiterbewegung" sei ein "Führungswechsel in der SED ".Kurz nach dem Aufstand in Ungarn im Oktober 1956 wird Harich zum einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter Puschkin geladen und über seine Ansichten ausgefragt. Ein paar Tage später danach wird Harich zu Ulbricht bestellt. Ulbricht bezeichnet die Vorgänge in Ungarn als Konterrevolution und sagt zu Harich: "Wenn sich hier so was rausbildet, wie [...] in Ungarn, in Budapest. Das wird im Keime erstickt, ja?!" Wenig später werden Harich, Hertwig, Janka und Steinberger verhaftet.

Ruf eines Denunzianten

Ulbricht will einen Schauprozess. Dazu gehört - nach stalinistischen Vorbild - ein geständiger Angeklagter, der sich voller Reue zeigt und seine tatsächlichen oder vermeintlichen Mittäter belastet. Anfang März 1957 ist Harich soweit: Er gesteht seine staatsfeindlichen Aktivitäten und bedankt sich bei der Stasi, dass sie ihn aufgehalten hat. Der Prozess dauert drei Tage. Am 9. März 1957 ergeht das Urteil: Zehn Jahre Haft für Harich wegen so genannter Boykotthetze. Steinberger bekommt vier Jahre, Hertwig zwei Jahre Bautzen. In einem zweiten Prozess erhält auch der Rest der angeblichen Verschwörer Gefängnisstrafen. Janka, altgedienter Kommunist und Spanienkämpfer, ist der einzige, der kein Geständnis ablegt - und Harich als Denunzianten bezeichnet. Als Harich 1964 nach acht Jahren amnestiert wird, eilt ihm der Ruf des Verräters voraus.Nach dem Ende der DDR wird das Urteil gegen Harich aufgehoben. Er hofft, seine Ehre doch noch retten zu können, und beantragt vor Gericht, dass die Prozessakten von damals geöffnet werden. Doch sein Antrag wird abgelehnt. Wolfgang Harich arbeitet in seinen letzten Lebensjahren an einer Monografie über seinen ersten philosophischen Lehrer Nicolai Hartmann. Sie erscheint nie. Harich stirbt am 15. März 1995.

Stand: 09.03.07