Aufsicht der "Ersatz-Schulen"

Hinter privaten Schultüren

Stand: 11.03.2010, 02:00 Uhr

Die bisher bekannt gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs ereigneten sich größtenteils an Privatschulen. Rund 340 gibt es davon in NRW, darunter viele kirchliche, die sich weitgehend selbst organisieren. Für die Aufsicht ist allerdings der Staat verantwortlich.

Von Nina Magoley

Von sexuellem Missbrauch ist das, was Jan Schrecker erlebt hat, weit entfernt. Dennoch berichtet der heute 30-Jährige von Demütigungen und Misshandlungen während seiner Schulzeit, die ihm noch immer zu schaffen machen.

Jan Schrecker, Missbrauchsopfer

Jahrelang geschlagen von der Lehrerin: Jan Schrecker

Schrecker war bis 1996 Schüler an der Waldorfschule Schloss Hamborn in der Nähe von Paderborn. Seine damalige Lehrerin, so berichtet er, habe ihn und andere Schüler jahrelang geschlagen und massiv eingeschüchtert. Er sei Zeuge gewesen, wie die Lehrerin Mitschüler ohrfeigte oder schmerzhaft an den Haaren zog, nur weil sie Haargel benutzt hatten. Einmal habe sie den Kopf eines Jungen, der ein bedrucktes T-Shirt trug, "mit voller Wucht" auf den Tisch gehauen, so dass dessen Nase blutete.

Schulaufsicht muss Privatschulen überwachen

Eine Strafanzeige gegen die Lehrerin, die Schrecker im Jahr 2002 bei der Staatsanwaltschaft Dortmund stellte, wurde wegen Verjährung abgewiesen. Als er sich daraufhin an die Bezirksregierung Detmold wandte, habe man ihm dort erklärt, dass die Behörde für private Schulen, wie Waldorf- oder auch kirchliche Schulen, nicht zuständig sei.

Auch auf eine Petition beim Landtag NRW hin bekam der ehemalige Schüler dieselbe Auskunft. Das "Verhalten der Lehrkraft", heißt es in einem Antwortschreiben, das WDR.de vorliegt, "konnte keine schulaufsichtliche Maßnahme auslösen", da die Lehrkraft nicht Bedienstete des Landes Nordrhein-Westfalen war, sondern in einem privatrechtlichen Vertragsverhältnis zum Schulträger stand". Ein Blick in das Schulgesetz NRW allerdings führt zu anderen Erkenntnissen: Die Schulaufsicht über "Ersatzschulen", wie private Schulen in Behördensprache heißen, sei Aufgabe der "für die entsprechenden öffentlichen Schulen zuständigen Schulaufsichtsbehörde".

Ministerium: "Kein Kontrollplan"

Das bestätigt das Schulministerium NRW. "Die Bezirksregierungen", erklärt Sprecher Ralf Dolgner, "führen Visitationen bei den privaten Schulen durch, auch bei den kirchlichen. Wenn da etwas faul ist, kann die Schule im schlimmsten Fall sogar geschlossen werden." Einen "festen Plan" für solche Kontrollen gebe es aber nicht, räumt er ein. Auch hätten die jüngsten Meldungen, die ein bisher nicht bekanntes Ausmaß des Missbrauchs erahnen lassen, bisher noch keinen Handlungsbedarf im Ministerium ausgelöst. Man wolle jetzt erstmal den Runden Tisch zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch abwarten, den die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) für Mitte April einberufen hat. Daran sollen unter anderem Schul- und Internatsträger, die katholische und die evangelische Kirche, Familienverbände und Vertreter von Ländern und Kommunen teilnehmen.

Behörden uneins über ihre Aufgabe

Bei den zuständigen Bezirksregierungen wird die Aufgabe der Schulaufsicht an Privatschulen offenbar unterschiedlich interpretiert. "Für die Personalauswahl sind die privaten Träger selber zuständig", sagt Christoph Söbbeler, Sprecher für den Regierungsbezirk Arnsberg. Wenn dort einem Schulleiter etwas Besonderes auffalle, könne er das der Bezirksregierung melden. Die entscheide dann, ob die betreffende Lehrperson weiter im Amt bleibe oder nicht. Eine aktive Kontrolle dessen, was hinter den Türen der privaten Schulen passiert, gebe es allerdings nicht. Söbbeler verweist noch auf das "Schülertelefon", eine Art Sorgenhotline, die aber "nicht übermäßig stark genutzt" werde.

Bei der Bezirksregierung Düsseldorf verweist Sprecher Oliver Kühn direkt an das Schulministerium NRW. Dort werde zurzeit ein neuer Leitfaden für Lehrer entwickelt, der unter anderem den Umgang mit Missbrauchsfällen zum Thema habe und demnächst im Internet zu finden sei. Die personelle Aufsicht in den Privatschulen, meint der Sprecher hier, liege beim Träger.

"Schulaufsicht hat eher Beratungsfunktion"

Barbara Sommer

Ministerin Barbara Sommer: Erst mal abwarten

Träger der meisten katholischen Schulen und Internate sind die Bistümer. Christliche Schulen, sagt Karl Hagemann, Sprecher des Bistums Münster, könnten sich seit einigen Jahren vor Anmeldungen kaum retten. "Da ist der Staat sogar froh, dass die Kirche die Verwaltung übernimmt", so sein Eindruck. Wie bei anderen Privatschulen auch übernimmt das Land NRW allerdings 93 Prozent der Kosten der katholischen Schulen, der Träger selbst nur sieben Prozent.

Beim Erzbistum Paderborn, wo ebenfalls Missbrauchsfälle bekannt wurden, reagiert man betroffen auf die Enthüllungen der vergangenen Wochen: "Wir haben alle Schulleiter der rund 40 katholischen Schulen des Bistums aufgefordert, in ihren Unterlagen der letzten Jahre nachzusehen, ob es irgendwelche Auffälligkeiten gab", sagt Kirchenschulrat Roland Gottwald. Mit der Bezirksregierung gebe es zwar regen Kontakt über finanzielle Fragen, Kontrollen zum Sozialverhalten der Lehrer gebe es aber nicht. Im Gegenteil: "Die staatliche Schulaufsicht tendiert immer mehr zu einer Beratungsfunktion."

Immerhin bietet das Bistum seit 2002 einen Ansprechpartner bei sexuellem Missbrauch, dessen Telefonnummer auf der Internetseite zu finden ist. Dessen Leitung läuft seit Tagen heiß. "Es rufen Menschen aus ganz Deutschland an und erzählen mir von ihrem Leid", sagt der Vertrauensmann. Sexuelle Übergriffe seien jahrzehntelang von Lehrern und Eltern gleichermaßen bagatellisiert worden. Sexueller Missbrauch, stellt er fest, sei ein flächendeckendes Problem, an Schulen und Internaten genauso wie in Familien, weil sich "eine Kultur des Wegschauens" etabliert habe. Obwohl das Bistum die Hotline seit Jahren betreibt und der Berater ein wichtiger Kontrollpunkt sein könnte, habe sich die staatliche Schulaufsichtsbehörde noch nie bei ihm gemeldet.

Waldorfschule: "Man hat nie genug gemacht"

Auf die Schnelle lasse sich der Fall Jan Schreckers bei der Bezirksregierung Detmold nicht klären, sagt Maria Kisting vom Fachbereich Schulaufsicht auf Nachfrage. Doch das grundsätzliche Prozedere steht für sie fest: "In einem solchen Fall muss die Behörde von der beschuldigten Waldorfschule eine Stellungnahme einfordern." Um ihrer Aufgabe nachzukommen, müsste die Bezirksregierung regelmäßigen Kontakt zu den einzelnen Privatschulen haben, "das Lehrpersonal persönlich in Augenschein nehmen".

Tatsächlich aber gebe es solche Kontrollbesuche nur alle paar Jahre. Auch an der betroffenen Waldorfschule in Hamborn ist man eher ratlos: "Es gibt bei uns kein spezielles Sicherungssystem gegen Missbrauchverhalten", sagt Julia Esser, Mitglied im Führungsgremium der Schule. Man bemühe sich um möglichst viel soziale Kontrolle: durch Einrichtungen wie Vertrauenslehrer, Schülerselbstverwaltung und einen "Vertrauenskreis", dem Eltern und Lehrer angehören. "Um Missbrauch zu verhindern, erfordert es trotz allem, dass das betroffene Kind den Mut fasst, jemanden anzusprechen." Zwar habe sich die Fähigkeit dazu in den letzten zehn Jahren durch ein verändertes Klima deutlich verbessert, "aber man hat nie genug gemacht".

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