Vertriebene irakische Christen

Flüchtlingsdrama endete in Essen

Waisenkinder flohen allein aus dem Irak

Stand: 03.04.2008, 06:00 Uhr

Monatelang dauerte ihre Odyssee durch den Norden des Irak, über die syrische Grenze bis nach Damaskus. Jetzt sind die sieben irakischen Waisenkinder bei ihrer Großmutter in Essen angekommen - ein Wunder, sagt die Caritas.

Von Katja Goebel

Es passiert am 12. Juli 2007. Der 15-jährige Naseem ist gerade im Ort unterwegs, als Nachbarn ihn ansprechen. "Lauf schnell nach Hause, da ist etwas mit deiner Familie passiert." Als der Junge zuhause ankommt, findet er seine Mutter blutüberströmt im Garten. Sie ist tot. Daneben stehen fassungslos und tief verstört seine sechs Geschwister. Der jüngste Bruder ist gerade fünf Monate, die älteste Schwester 13 Jahre alt.

Später wird Naseem immer wieder erzählen müssen, was sich an jenem Nachmittag zugetragen hat in seinem irakischen Heimatdorf Samarah, südlich von Mossul, als sechs vermummte Männer das Haus stürmen und die Mutter vor den Augen seiner Geschwister erschießen. Am gleichen Tag noch verschwindet auch der Vater und wird nie wieder gesehen. Warum? Weil sie allesamt Christen sind - die einzigen, die in dem irakischen Dorf noch übrig waren.

Angst vor Terror und Tod

"Schon Tage vorher hat diese radikale Bande meine Tochter bedroht, sie sollte sich zum Islam bekennen und ein Kopftuch tragen", erzählt Fiktoria Hanah. Sie sitzt auf dem Sofa ihrer Wohnung im Essener Südostviertel. An der Wand hängt gold umrahmt ein Bild des Abendmahls, überall in der Wohnung Marienbildchen und christliche Kreuze. Fiktoria Hanah hat tiefe Ringe unter den Augen, sie trägt schwarz. Dann zeigt sie stumm das letzte Bild ihrer Tochter. Jemand hat den Leichnam der 34-Jährigen noch fotografiert. Die junge Mutter liegt da in ein buntes Tuch gehüllt. "Schüsse in Brust und Bauch" steht in der Sterbeurkunde.

Eine ganze Nacht lang hat Naseem seine Mutter damals im Arm gehalten. Am nächsten Tag zieht der Junge allein los. Ins Krankenhaus des Ortes. Er muss einen Sarg besorgen. Kein Nachbar hilft - aus Angst vor noch mehr Tod und Terror. Angriffe auf Christen gehören im Irak längst zum Alltag.

Exodus der Christen

Millionen von Menschen sind innerhalb des Irak auf der Flucht vor der Gewalt. Doch seit der amerikanischen Besatzung spitzt sich die Lage für die christliche Minderheit im Land immer weiter zu. Radikale Islamisten zeigten ihren offenen Hass längst nicht mehr nur damit, dass sie Kirchen niederbrennen, berichtet Rudi Löffelsend vom Essener Caritasverband. "Da ist jede Regel außer Kraft. Erst vor wenigen Tagen wurde der Chaldäische Erzbischof von Mossul verschleppt und getötet", so Löffelsend. Wer der Gewalt und dem blutigen Morden entkommen will, muss fliehen. "Das ist der Exodus der Christen aus Irak."

Lieber sterben, als zurück zu gehen

Auch Naseem will fliehen. Ein Bus mit Fahrer wird organisiert. Einen Tag nach dem Mord an seiner Mutter und der Verschleppung seines Vaters macht sich der 15-Jährige mit seinen sechs Geschwistern und einem Holzsarg auf den Weg zu einer Tante. Einen Monat bleiben sie. Die Mutter wird beigesetzt. Dann müssen sie weiter. Die ganze Familie ist alarmiert. Auch die Großmutter, die seit Jahren in Essen lebt. In der syrischen Hauptstadt Damaskus - rund 700 Kilometer von Mossul entfernt - will sie die Enkel treffen. Die christliche Gemeinde am Wohnort der Tante hilft weiter. Wieder wird ein Bus organsiert und für die Kinder geht es weiter Richtung Grenze.

Ein gefährlicher Weg. Werden sie ohne Eltern erwischt, müssen sie zurück. Sie finden tatsächlich einen mutigen Fahrer. Der ist ebenfalls Christ und baut nun fest auf Gottes Hilfe. Und auch für Naseem steht der Entschluss fest. "Lieber sterbe ich, als zurück zu gehen."

Elf Menschen teilen sich drei Räume

Sieben Monate dauert es, bis die Kinder mit ihrer Großmutter Syrien Richtung Deutschland verlassen können. Das Schicksal der Kinder hat die Deutsche Botschaft in Damaskus bewogen, sogar den Außenminister persönlich um Hilfe zu bitten. Auch das Ausländeramt in Essen hilft schließlich schnell und unbürokratisch. Noch vor Weihnachten erteilt das Amt eine Vorabgenehmigung, dass sie bei ihrer Großmutter wohnen dürfen. "Normalerweise wären die Kinder erst einmal in Heime gekommen", so Rudi Löffelsend.

Seit der geglückten Ausreise aus Syrien kurz vor Ostern ist in der Essener Etagenwohnung von Fiktoria Hanah und ihrem Mann Abdel nichts mehr wie es war. Elf Menschen teilen sich nun die drei Räume, denn zwei eigene Kinder der Großmutter leben auch noch hier. Während die Kleinsten aufgedreht durch die noch kahlen Räume flitzen, sitzt ihre 54-jährige Großmutter erschöpft im Wohnzimmer. Alle sieben Kinder will sie so schnell wie möglich adoptieren, damit die Familie zusammen bleiben kann. "Aber alleine schaffe ich das nicht", sagt sie und reibt sich die Augen. Daneben sitzt Naseem und lächelt tapfer.

Noch fehlt es der Familie an vielem - vor allem aber an Windeln, Kleidung, Möbeln und Lebensmitteln. Und wie geht es weiter? "Irgendwie - mit Gottes Hilfe", sagt Fiktoria Hanah. Und mit Hilfe der Caritas. Rudi Löffelsend hat viel telefoniert in den letzten Tagen. Am Nachmittag kann sich die Familie bereits eine größere Wohnung ansehen.