Journalisten umringen das Fluchtauto

Chef des Presserats zu Gladbeck

"Die Diskussion über Qualität hat zugenommen"

Stand: 16.08.2013, 06:00 Uhr

Das hemmungslose Verhalten vieler Reporter beim Gladbecker Geiseldrama hatte eine heftige Debatte über Ethik im Journalismus zur Folge. In Zeiten von Twitter und Co. stehen Redaktionen heute oft vor noch größeren Herausforderungen, sagt Lutz Tillmanns, Chef des deutschen Presserats.

Geiselgangster geben Journalisten Interviews mitten in einer Menge von Schaulustigen. Ein Entführer hält seiner Geisel fürs Foto eigens nochmal den Revolver an den Hals - auf Wunsch des Zeitungsfotografen, der den richtigen Moment zuvor verpasst hatte. Ein Boulevardzeitungschef steigt zu den Entführern ins Auto, um ihnen den Fluchtweg aus der Stadt zu zeigen. Solche und noch viele andere absurde Situationen während der Gladbecker Geiselnahme führten später dazu, dass der Deutsche Presserat noch im selben Jahr seinen Kodex verschärfte. Beim Deutschen Presserat kann jeder Beschwerde einlegen, der eine Berichterstattung in Zeitungen, Zeitschriften oder im Internet für unangemessen hält. Der Rat reagiert dann - vom bloßen Hinweis an die entsprechende Redaktion über eine Missbilligung bis zur öffentlichen Rüge. 2012 gingen beim Presserat 1.137 Beschwerden ein, 450 davon befand das Gremium als berechtigt. Lutz Tillmanns ist Geschäftsführer des Deutschen Presserats.

WDR.de: Herr Tillmanns, hat die kritische Auseinandersetzung der Presse mit sich selbst nach dem Gladbecker Geiseldrama etwas verändert?

Lutz Tillmanns, Deutscher Presserat

Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Deutschen Presserats

Lutz Tillmanns: Es werden auch heute noch Grenzen überschritten. Aber beim Thema Geiselnahme hat sich doch einiges geändert seit Gladbeck. Medien sind sensibler geworden, beobachten sich gegenseitig stärker. Bei der Geiselnahme 1994 in Fulda, bei der zwei Männer nach einem Bankraub mehrere Geiseln quer durch die Republik chauffierten und schließlich im hessischen Driedorf gefasst wurden, war das Verhalten der Medien deutlich zurückhaltender. Zwar folgten auch da Journalisten dem Fluchtauto, ignorierten vereinzelt Polizeiabsperrungen und es gab auch ein oder zwei Live-Interviews. Die meisten Medien aber distanzierten sich sofort davon. Anschließend wurde der Fall kritisch diskutiert und analysiert. Ein solcher Tabubruch, wie er bei der Gladbecker Geiselnahme passiert ist, wird meiner Meinung nach nicht mehr vorkommen.

WDR.de: Die Eltern der entführten und später getöteten weiblichen Geisel hatten sich ausdrücklich erbeten, dass die Bilder ihrer Tochter aus der Zeit der Entführung nie mehr gezeigt werden. WDR.de zum Beispiel hat beschlossen, das zu respektieren. Dennoch sind die Fotos der Geisel dieser Tage überall zu sehen. Wie bewerten Sie das?

Tillmanns: Das ist immer ein Abwägen: Zwischen Persönlichkeitsrechten einerseits und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit andererseits. Die weibliche Geisel ist natürlich, bei aller Tragik, eine wichtige Person in diesem ganzen Komplex, ihr Bild dadurch ein Synonym für dieses wichtige Ereignis der Zeitgeschichte - zu dem man nunmal auch Bilder zeigen muss. Daher können die Eltern nicht allein darüber verfügen, ob diese Bilder veröffentlicht werden oder nicht - und die Täter auch nicht. Im Sinne der Eltern würde man sich natürlich mehr Zurückhaltung wünschen, aber so sind die Opfer auch nach 25 Jahren noch ein Teil der Öffentlichkeit.

WDR.de: Für die Öffentlich-Rechtlichen, die damals hauptsächlich berichteten, hat später mit dem Erstarken der privaten Fernsehsender ein noch größerer Konkurrenzdruck eingesetzt. Bringt dieser Wettbewerb um die heißeste Geschichte und das spektakulärste Interview die journalistische Ethik nicht immer mehr in Gefahr?

Hans-Jürgen Rösner gibt mit einer Waffe in der Hand ein Interview

Entführer Hans-Jürgen Rösner gibt mit einer Waffe in der Hand ein Interview

Tillmanns: Sicherlich, ebenso der Wettbewerb zwischen den im Internet präsenten und den klassischen Medien wie Rundfunk oder Print. Es sind mehr Akteure auf dem Markt, aber es gibt auch ein schärferes Bewusstsein dafür, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Bei dramatischen Medienereignissen – ob Amokläufe, Terroranschläge oder andere große Unglücke - konkurrieren die Medien auch in der Art ihrer kritischen Auseinandersetzung miteinander. Wenn sich einige Medien deutlich für eine zurückhaltende Berichterstattung entscheiden, setzen sie sich damit positiv ab von denen, die Grenzen eher überschreiten. Die Diskussion über Qualität hat zugenommen - und sie wird von der Konkurrenzsituation noch gefördert.

WDR.de: Dennoch müssen Medien immer härter um Leser, Zuschauer, Zuhörer kämpfen. Wird da nicht manche Redaktion lieber ihren Ehrenkodex vernachlässigen, wenn die reißerischeren Bilder mehr Kunden bringen?

Tillmanns: Nicht unbedingt. Dass man durch eine besonders aggressive Berichterstattung die Leser- oder Klickzahlen erhöhen kann, trifft nicht unbedingt zu. Klar, viele Leser finden es spannend, hautnah und direkt informiert zu werden. Aber über das Internet gibt es mittlerweile Reaktionen wie Shitstorms oder vernetzte Kritik, die zu Gegenbewegungen werden und für entsprechend berichtende Medien durchaus zum Nachteil sein können. Das ist oft eine Wechselwirkungsbeziehung.

WDR.de: Die Medienlandschaft hat sich in den letzten 25 Jahren stetig gewandelt. In London tötete ein Mann einen Soldaten auf offener Straße und sprach danach direkt in eine Kamera. Beim Anschlag auf den Bostoner Marathon und der anschließenden Suche nach den Tätern gab es eine Flut von Tweets, Fotos, Videos im Netz. Wie sollten Redaktionen mit solchem Material umgehen?

Eine Frau legt in London Woolwich Blumen auf den Asphalt

Nach dem Londoner Mordanschlag auf einen Soldaten

Tillmanns: Tatsächlich bekommen Redaktionen in letzter Zeit verstärkt private Videos, Fotos oder Tweets zugespielt. Das sind Quellen, die aus journalistischer Sicht durchaus interessant sind. Umso wichtiger finde ich eine Filterfunktion in der Redaktion, die solche Inhalte sortiert, einordnet, Hintergründe beleuchtet, kritisch kommentiert. Bei der Berichterstattung zum Mordanschlag in London und dem Marathon-Anschlag haben wir ein knappes Dutzend an Beschwerden von Zeitschriften und Zeitungen bekommen, die sich jeweils gegen Online-Dienste wandten und eine sorgfältigere Auswahl der Bilder fordern.

WDR.de: Wo liegen die Grenzen?

Tillmanns: Beim Amoklauf von Winnenden beispielweise haben mehrere Medien das Video von der Selbsttötung des Schülers eins zu eins übertragen. Das sahen wir als einen Verstoß gegen den Kodex und haben das auch moniert. Aber da muss man jeden Fall einzeln prüfen. Das Londoner Attentat war eine meines Wissens bisher einmalige Gestaltung eines Verbrechens: Der Täter hat einkalkuliert, dass dabei Bilder entstehen, die weltöffentlich gemacht werden. Auch in seiner Negativ-Aussage ist das ein wichtiges Ereignis gewesen, und es kommt dann darauf an, inwiefern sich Redaktionen zum Werkzeug machen, ob sie es eins zu eins öffentlich darstellen, live berichten oder es redaktionell einsortieren oder bearbeiten, kommentieren und in einen Kontext stellen. Das ist die journalistische Arbeit, die man erwarten sollte.

WDR.de: Wie kann verantwortungsvoller Journalismus gesichert werden? Braucht es mehr Kontrollinstanzen innerhalb einer Redaktion vor der Veröffentlichung einer Nachricht?

Tillmanns: Immer mehr Redaktionen haben in den vergangenen Jahren begonnen, eigene Qualitätskodizes, die eigenen ethischen Schwerpunkte selber zu formulieren und auch danach zu leben. Mancherorts gibt es sogar Ombudsleute, die den Auftrag haben, die Arbeit der Redaktion kritisch zu begleiten und zwischen Redaktion und Publikum zu vermitteln. Solche Selbstreflexion muss selbstverständlich werden, damit man mit unvorhersehbaren Situationen besser umzugehen weiß, ethische Kriterien greifbar hat. Das sind Instrumente, die die Qualität journalistischer Arbeit verbessern helfen.

Das Interview führte Nina Magoley.

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