"Generation 9/11"

Studie in NRW zu Terroranschlägen in USA

Stand: 11.09.2012, 06:00 Uhr

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben die Welt verändert. Auch den Alltag? Gibt es in Deutschland eine "Generation 9/11" wie in den USA? Forscher der Universität Duisburg-Essen haben dazu eine Pilotstudie im Internet durchgeführt.

Von Lisa von Prondzinski

"Zuerst war es ein stinknormaler Tag im Büro", erinnert sich der Versicherungskaufmann Marco Zandonella, 40 Jahre alt, an den 11. September 2001. Dann erfuhr er von Kollegen am Telefon das schier Unfassbare: Flugzeuge rasen in das World Trade Center in New York. "Als das zweite in den Turm flog, war mir klar: ‚Das kann kein Unfall sein’", erzählt der Kölner noch heute mit aufgewühlter Stimme. Dann die Nachricht von Terroranschlägen. So etwas hätte Marco Zandonella zuvor nie für möglich gehalten. Zu Hause dann hat er bis tief in die Nacht hinein vor dem Fernseher gesessen und auf neue Informationen gewartet, hat immer wieder gesehen, wie Menschen aus den Türmen in den Tod springen, um dem Feuer zu entkommen. "Zuerst habe ich gar nicht kapiert, dass das Menschen sind." Fast 3.000 Menschen kamen durch die Terroranschläge in den USA ums Leben, die am Dienstag (11.09.2012) elf Jahre her sind.

Gruppendiskussion im Internet

So lebendig wie Marco Zandonella seine Erinnerungen an den Tag und die Zeit danach schildert, klingt es fast, als sei das alles erst gestern gewesen. Und es ist typisch für das, was Forscher an der Universität Duisburg-Essen (UDE) in einer im Internet durchgeführten Pilotstudie untersucht haben. Die Soziologen wollten wissen, "ob sich in Deutschland so etwas wie eine Generation 9/11 herausbildet", erzählt die Soziologin Daniela Schiek. " 9/11" ist die amerikanische Schreibweise für den 11. September.

Studie wurde anonym durchgeführt

Marco Zandonella hat an der Studie zwar nicht teilgenommen, aber seine Einstellungen spiegeln vieles wider, was die User, die anonym teilgenommen haben, schreiben. Die Wissenschaftler hatten auf ihrer Internetseite 30- bis 40-Jährige aufgefordert, an dieser Gruppendiskussion teilzunehmen und haben dann abgewartet, wer sich beteiligt. Was das für Menschen sind, wissen sie nicht. Das Forum war von 15. März bis Ende August diesen Jahres geöffnet. 199 Mitglieder haben sich dort angemeldet, 109 Einträge wurden gezählt. Wer angemeldet war, konnte jederzeit etwas schreiben.

Erste Anhaltspunkte für Forscher

Weil diese kleine Pilotstudie absolut nicht repräsentativ ist, sind die Ergebnisse für die NRW-Wissenschaftler nur erste Anhaltspunkte und in jedem Fall Grund genug, um weiterzumachen. Sie analysierten, wie die Teilnehmer in ihren Einträgen vom "Tag des Terrors" gemeinsam erzählen und ihn beurteilen. Bisher sei in Deutschland kaum danach gefragt worden, sagt die Soziologin Schiek. "Tatsächlich kommen wir anhand der Pilotstudie zu dem Schluss, dass sich eine Generation 9/11 herausbildet." Von "einer Generation" sprechen Forscher, wenn große weltpolitische Ereignisse die Einstellungen vieler verändern, was wiederum die Gesellschaft beeinflusst. Der Vietnamkrieg zum Beispiel hat die 68er-Generation hervorgebracht.

Große Verunsicherung

Die UDE-Forscher waren überrascht von der großen Betroffenheit und Verunsicherung, die sich in den Einträgen widerspiegeln. "Ich habe mich nie wieder hundertprozentig sicher gefühlt", schreibt einer anonym und fügt hinzu: "Ich habe gelernt, mit meinen Ängsten umzugehen, aber meine Unbeschwertheit, die ich vielleicht mit 20 hatte, die fehlt mir." Es melden sich aber auch welche zu Wort, die behaupten, keine Angst zu haben. "Es ist ihnen wichtig, genau das mitzuteilen. Auch das spricht dafür, dass ein gemeinsames Bewusstsein in dieser Altersgruppe nachhaltig geprägt wird", erklärt Schiek.

Im Focus stand die Altersgruppe der heute 30- bis 40-Jährigen, weil die Frauen und Männer "zum Zeitpunkt der Terroranschläge in einem Alter waren, in dem sie ihre erste globale Gewalterfahrung gemacht haben". Die Älteren hätten schon den Kalten Krieg und die atomare Aufrüstung mitbekommen.

Junge Amerikaner offener gegenüber freiwilligem Militärdienst

In den USA ist der Begriff "Generation 9/11" bereits etabliert. So werden heute junge Amerikaner charakterisiert, die nach den Anschlägen einen starken Patriotismus entwickelt haben und offener gegenüber dem freiwilligen Militär- und Geheimdienst geworden sind, erzählt die Soziologin Schiek. Das sei anders als bei der Vietnam-Generation, denn die sei allem Militärischen gegenüber äußerst kritisch gewesen.

Studie wird außerhalb des Internets weitergeführt

Was über die Betroffenheit hinaus ein gemeinsames Thema einer deutschen Generation 9/11 sein könnte, wissen die NRW-Wissenschaftler noch nicht. Ihnen fehlen weitere Informationen. Schiek weiß lediglich, dass die deutsche Sicherheitspolitik nicht das große Thema der heute 30- bis 40-Jährigen ist. "Denn die Maßnahmen der Anti-Terror-Gesetzgebung in Deutschland wurden in der Studie nahezu einhellig abgelehnt und als Eingriff in die Grundrechte aufgefasst. Da gibt es keine großen Diskussionen." Die Internet-Studie war erst der Anfang, um zu prüfen, "ob sich überhaupt etwas regt", so die Soziologin. Um mehr zu erfahren, soll die UDE-Studie im nächsten Jahr außerhalb des Internets weitergeführt werden.

Auch Marco Zandonella sieht die verschärften Maßnahmen im Luftverkehr kritisch. Genauso wie die späteren militärischen Interventionen im Irak und Afghanistan. Für ihn hat sich grundsätzlich einiges verändert: "Ich gehe zwar nicht ängstlich durchs Leben, aber mein Weltbild hat sich verändert", sagt er. "Ich glaube, alles, wirklich alles, kann passieren." 

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