Stichtag

20. April 2004 - Vor 15 Jahren: Auschwitz-Mörder flieht nach Justiz-Panne

Die einen halten den Vorgang im Nachhinein für eine Panne in der juristischen Routine, andere sehen darin einen Skandal:

Der Bundesgerichtshof lehnt die Revision eines Mordprozesses ab. Das Urteil - lebenslänglich - ist rechtskräftig und geht per Post an den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft muss das Schreiben intern weiterleiten und die Polizei anweisen. Das braucht einige Zeit. Der Angeklagte dagegen empfängt die Post zu Hause in Solingen, weil ihm das Oberlandesgericht Düsseldorf während des Prozesses Haftverschonung gewährte. Eine Kaution und die Abgabe der Papiere genügten bei einem älteren Herrn "mit intaktem sozialen Umfeld" gegen die Fluchtgefahr. Jetzt setzt sich der ältere Herr mit Frau und erwachsenem Sohn in seinen Wagen und ins Ausland ab. Die Polizei kommt, wie später rekonstruiert wird, genau eine halbe Stunde zu spät.

"Die Vollstreckung geht uns nichts an", erklärt ein Sprecher des BGH. Was einen Staatsanwalt zu dem Kommentar veranlasst: "Man hat die Sache behandelt wie bei einem Eierdieb."

Die Posse ereignet sich am 20. April 1989, einem Tag nicht ohne Symbolwert. Denn der Flüchtige ist wegen mehrfachen Mordes im KZ Auschwitz verurteilt. Den SS-Unterscharführer haben ehemalige Häftlinge nicht vergessen können. Sie nannten ihn "Den Blinden", seines Glasauges wegen. Im Prozess erhält er den Beinamen "Wilhelm Tell von Auschwitz", weil Zeugen berichten, wie er Häftlingen Konservendosen auf Schultern und Kopf stellte und darauf schoss, bis er die Opfer selbst traf. Einmal ist es ein acht Jahre alter Junge, einmal ein 17-jähriges Mädchen.

Zwei Monate bleibt der 68-Jährige verschwunden, bis er sein Chalet am Thunersee in der Schweiz für einen Krankenhausaufenthalt verlassen muss. Er wird verhaftet und in ein Justizkrankenhaus im Bergischen Land gebracht. Dort bleibt er bis zu seiner vorzeitigen Haftentlassung im Juli 1997.

Stand: 20.04.04

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