Stichtag

06. Dezember 2010 - Vor 25 Jahren: 1. Jazztage der DDR in Weimar

Walter Ulbricht hat noch bei jeder Gelegenheit gegen diese "Affenkultur des Imperialismus" gewettert. Jazz-Musik war für den spitzbärtigen Betonkommunisten, bis 1971 Staatsratsvorsitzender der DDR, eine "korrupte, primitive und schlüpfrig-erotische Verfallserscheinung". Trotzdem wächst auch in den Nischen des Arbeiter- und Bauernstaats, von der Stasi argwöhnisch beäugt, eine kreative, stilistisch weit verzweigte Jazz-Szene heran. Nicht nur hinter der Mauer, auch im Westen, gewinnen die DDR-Jazzer zunehmend an Aufmerksamkeit und Reputation – auch als nützliches Aushängeschild einer modernen, aufgeschlossenen DDR.

Stars und Spitzel in Weimar

Ende der 70er Jahre als Devisenbringer zum "Bestandteil der sozialistischen Musikkultur" hochgelobt, wird die ungeliebte Musik 1984 mit einer "Sektion Jazz" im Komitee für Unterhaltungskunst unter staatliche Kontrolle gebracht. Zum ersten Vorsitzenden der Sektion küren die Kulturfunktionäre den Posaunisten Konrad "Conny" Bauer. Unter seiner Leitung beginnen am 6. Dezember 1985 in Weimar die 1. Jazztage der DDR, als eine Art Leistungsschau sozialistischen Musikschaffens auf Weltniveau: "Ziel des Festivals ist, den heute qualitativ wie quantitativ hochentwickelten Jazz in der DDR in ein angemessenes Forum der Gesamtpräsentation zu stellen", tönt Bauer in seiner Eröffnungsrede.
Mehr als 200 Profimusiker und Amateure präsentieren in den folgenden Tagen in 16 Konzerten die ganze Bandbreite des Ost-Jazz, vom Oldtime-Dixieland bis zu den Klangexperimenten der Free-Jazz-Avantgarde. Zu den Stars, die vor ausverkauften Rängen spielen, gehören die Sängerin Uschi Brüning, der Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky und das Sextett von Günther Fischer, der, wie nach der Wende bekannt wird, als "IM Günther" den Sänger und Schauspieler Manfred Krug bespitzelt hat. Etliche Musiker wie der Pianist Ulrich Gumpert wehren sich allerdings gegen die Vereinnahmung und verweigern einen Auftritt bei dem staatlich verordneten Festival.

Freiheit statt freier Töne

Der Musikjournalist Rainer Bratfisch, ein ausgewiesener Kenner der DDR-Musikszene, recherchiert seit Jahren die Vorgänge hinter den Kulissen des Festivals von Weimar. Doch bei der Arbeit an seinem Buch "Freie Töne" stößt Bratfisch immer wieder auf Schweigen. Wie der Organisator Conny Bauer will heute kaum noch einer der damals Beteiligten an die 1. Jazztage der DDR erinnert werden. Zu groß scheint die Angst, in gefährliche Nähe zu den Stasi-Machenschaften rund um das Ereignis zu rücken. Die zweiten offiziellen Jazztage der DDR finden übrigens erst vier Jahre später statt. Doch im November 1989, wenige Tage nach dem Fall der Mauer, spielen selbst die größten Stars vor leeren Rängen. Statt freier Töne feiern die Menschen auf den Straßen die eigene Freiheit.

Stand: 06.12.10