Stichtag

04. Dezember 2005 - Vor 130 Jahren: Rainer Maria Rilke geboren

Malte Laurids Brigge lernt sehen. Mitten in Paris öffnet die fremde Großstadt dem jungen Adeligen die Augen für das Wesentliche. Schon der Anblick einer kahlen Häuserwand reicht aus, um das "Göttliche", aber auch das Grauenvolle hinter der Fassade aufscheinen zu lassen. "Ich lerne sehen" heißt es im Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), der die Pariser Erlebnisse in Form von Tagebucheinträgen festhält. "Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin."

Sehen lernen, den Dingen eine neue Sprache geben – das will auch der Dichter, der im Brigge sein alter ego erfunden hat: Rainer Maria Rilke. Er wird am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Schon als Schüler und Student flüchtet er sich in die Literatur, um einem autoritären Elternhaus und einer Offizierslaufbahn geistig zu entkommen. 1902 reist er nach Paris, um eine Monographie über den Bildhauer Auguste Rodin zu schreiben – eine Erfahrung, die sich im "Malte Laurids Brigge" niederschlägt. Vor allem in seiner Lyrik aber findet Rilke Worte für eine als verstörend, aber auch faszinierend empfundene Wirklichkeit: Worte, die einem Kinderkarussell, dem Gang eines Panthers oder einem Herbsttag religiöse Bedeutung verleihen.

Dass diese neue, bisweilen sentimental klingende Sprache auch missbraucht werden kann, zeigt Rilkes "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" (1912), den die deutsche Heeresleitung den Soldaten im ersten Weltkrieg reihenweise in die Tornister steckt. Die Kurzprosa-Sammlung, die den Tod im Angesicht des Feindes zur "lachenden Wasserkunst" verklärt, eignet sich nach Ansicht der Befehlshaber blendend als Erbauungslektüre in Kampfespausen. Danach sollen die Soldaten wieder mit neuer Kraft aus den Schützengräben gejagt werden.

"Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn", lauten einige von Rilkes berühmtesten Zeilen aus dem "Stundenbuch" (1905). "Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn." Rainer Maria Rilke stirbt 1926 im Sanatorium Valmont sur Territet bei Montreux an Leukämie.

Stand: 04.12.05