Paul Grüninger, ehemaliger St. Galler Polizeikommandant

22. Februar 1972 - Paul Grüninger stirbt in St. Gallen

Stand: 22.02.2017, 00:00 Uhr

Der "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" im März 1938 löst im Nachbarland Schweiz unterschiedliche Reaktionen aus. Der Schweizer Außenminister Giuseppe Motta bewundert den deutschen Einmarsch als "weltgeschichtliches Ereignis". Der Polizeichef des Grenzkantons St. Gallen, Paul Grüninger, sieht das anders. Er ist mit den Auswirkungen der Annexion konfrontiert. Denn in Österreich kommt es zu massiven Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung, Tausende wollen in die Schweiz fliehen. Doch dort gibt es ebenfalls Antisemitismus. Von einer Gefahr der "Verjudung" ist die Rede.

Grüninger steckt in einem Dilemma. Der Bundesrat in der Hauptstadt Bern will die jüdischen Flüchtlinge abweisen: "Abgesehen von unserem Arbeitsmarkt, gebietet schon der Grad der Überfremdung die strikteste Abwehr solcher Elemente." Soll sich der Chef der St. Galler Kantonspolizei der Staatsräson beugen oder seinem Gewissen folgen - und die Juden vorschriftswidrig ins Land lassen? Grüninger entscheidet sich für die Humanität. "Er hatte die Vorstellung, dass die Schweiz ein Land sein muss, das Verfolgten hilft und sie aufnimmt", sagt Grüninger-Biograf Stefan Keller aus Zürich.

Bis zu 3.000 Menschen gerettet

Der am 27. Oktober 1891 in St. Gallen geborene Grüninger ist seit 19 Jahren Polizeibeamter, als er vor die moralische Entscheidung gestellt wird. Zuvor war er Lehrer. Da am Grenzübergang Diepoldsau die meisten Flüchtlinge einreisen wollen, lässt Grüninger dort eine Aufnahmestelle für 300 Menschen einrichten. Im August 1938 verschärft sich die Lage: Es sei von ihm verlangt worden, "dass grundsätzlich und rigoros rücksichtlos alle, die noch kommen, wieder zurückgewiesen werden müssen", erinnert sich Grüninger. "Das habe ich natürlich nicht gemacht."

Alle Hilfesuchenden kann Grüninger jedoch nicht berücksichtigen: Um nicht aufzufallen, muss er etwa jeden dritten Flüchtling abweisen. Trotzdem gelingt es ihm, bis zu 3.000 Menschen in die Schweiz einreisen zu lassen. Um die Rettungsaktion zu kaschieren, trickst der Polizist. Zum Beispiel rät er, die Einreise zurückzudatieren auf einen Zeitpunkt, als man noch legal in die Schweiz kommen konnte. Reist ein Flüchtling in ein anderes Land weiter, vergibt Grüninger dieselbe Aktennummer für einen neuen Flüchtling und vermeidet so, dass die Anzahl der Untergebrachten weiter wächst.

Entlassen und entehrt

Die Geflüchteten werden von der Jüdischen Gemeinde versorgt und bei Schweizer Familien, auf Bauernhöfen und in Hotels versteckt. Anfang 1939 fällt Grüningers Verhalten auf. Er wird entlassen und angeklagt, unter anderem wegen Urkundenfälschung. Er muss eine Strafe und die Prozesskosten bezahlen. Später werden auch seine Pensionsansprüche gestrichen. Grüningers Nachfolger schickt hunderte Illegale zurück nach Deutschland. Die meisten werden in Vernichtungslagern ermordet.

Grüninger wird nicht nur die Existenzgrundlage entzogen, sondern auch sein Ruf ruiniert. Es wird behauptet, er habe Bestechungsgelder von Flüchtlingen angenommen und Affären mit jüdischen Frauen gehabt. An den antisemitischen Gerüchten, so Historiker Keller, ist zwar nichts dran. Aber Grüninger bekommt keinen festen Job mehr. Er schlägt sich als Vertreter durch, später als Aushilfslehrer.

Späte Wiedergutmachung

Paul Grüninger stirbt am 22. Februar 1972 verarmt im Alter von 80 Jahren in St. Gallen. Kurz zuvor hat ihm die israelische Gedenkstätte Yad Vashem den Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern" verliehen. Erst über 20 Jahre nach Grüningers Tod wird er durch die St. Galler Regierung politisch rehabilitiert. 1995 korrigiert das Bezirksgericht St. Gallen die Verurteilung mit einem Freispruch. Grüningers Tochter Ruth Roduner hat das Verfahren angestrengt.

Es folgen weitere Prozesse, in denen der Staat verurteilt wird, Bezüge und Pensionen nachzuzahlen. Den gesamten Betrag lässt Ruth Roduner in die Paul-Grüninger-Stiftung einfließen. Die Stiftung setzt sich für Personen ein, die Menschenrechte verteidigen.

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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Februar 2017 ebenfalls an Paul Grüninger. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.

Stichtag am 23.02.2017: Vor 30 Jahren: Beobachtung der ersten "nahen" Supernova.