Georg Cantor

12. Juli 1877 - Georg Cantor begründet die Mengenlehre

Stand: 12.07.2017, 00:00 Uhr

Das Unendliche ist Mathematikern lange Zeit unheimlich. Aristoteles verbannt null und unendlich gleichermaßen aus seinem Weltbild. Auch 2.000 Jahre später kommt Galilei zum Schluss, dass man über die Unendlichkeit nicht so reden darf wie über die endlichen Dinge. Noch 1831 fordert Carl Friedrich Gauß: "So protestiere ich gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe." Das Unendliche sei nur eine Redensart.

Die einschüchternde Komplexität des Unendlichen lässt sich am sogenannten Hotel Hilbert illustrieren: Ein Hotel mit unendlich vielen Zimmern - alle belegt. Trotzdem ist ein neuer Gast kein Problem. Der Empfangschef schickt einfach alle Gäste ein Zimmer weiter, und das erste wird frei. Auch ein Bus mit unendlich vielen Reisenden kommt noch unter. Alle vorhandenen Hotelgäste werden schnell auf die geraden Zimmernummern verlegt, die unendlich vielen ungeraden Zimmernummern werden frei - und der Bus ist untergebracht.

Verschiedene Unendlichkeiten

Von Paradoxien und Verboten lässt sich der 1845 in St. Petersburg geborene Georg Cantor nicht abschrecken. Er studiert in Zürich, Göttingen und Berlin Mathematik, bevor er in Halle an der Saale als Privatdozent und später als außerordentlicher Professor die Unendlichkeit erforscht. "Er hat unendliche Mengen verglichen, er wollte wissen, sind die in gewissem Sinne gleich groß oder verschieden groß", sagt Professor Albrecht Beutelspacher, Mathematiker an der Universität Gießen.

Georg Cantor legt Abhandlung über Mengenlehre vor (12.07.1877)

WDR 2 Stichtag 12.07.2017 04:13 Min. Verfügbar bis 10.07.2027 WDR 2


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Cantor erzielt zwei Ergebnisse, die inzwischen zum Allgemeinwissen der Mathematik gehören, aber lange umstritten sind. "Das eine Thema sind die Bruchzahlen", sagt Beutelspacher. "Man würde denken, es gibt viel, viel mehr Bruchzahlen als natürliche Zahlen." Aber Cantor habe gezeigt: Es gibt genauso viele Bruchzahlen wie natürliche Zahlen. Man kann sie wie ein Buchhalter auflisten und durchnummerieren.

Auch Cantors nächster Coup verstört seine konservativen Kollegen. Er weist nach, dass es sozusagen unendlicher als unendlich gibt - bei den Kommazahlen, die unendlich dicht beieinanderliegen. Diese kann kein Buchhalter auflisten. Die Kommazahlen "bilden eine viel größere Ebene der Unendlichkeit", so Beutelspacher.

Von Gegner beschimpft

Cantors nächster Paukenschlag - nach der Heirat im Sommer 1874 - wirbelt noch mehr Staub auf. Er beweist: Die Zahlenmenge auf der Strecke null bis eins ist gleich groß wie die auf dem Flächenquadrat mit Seitenlänge eins - obwohl auf die Fläche doch viel mehr passen sollte. Davon ist er selbst beeindruckt: "Ich sehe es, aber ich glaube es nicht."

Gegen den Rat eines Freundes schickt er das paradoxe Resultat am 12. Juli 1877 zur Veröffentlichung ans "Crellesche Journal". Doch dort sitzt sein Berliner Erzfeind Leopold Kronecker, der den Druck bis 1878 verzögert. Dieser beschimpft Cantor als "Scharlatan", "Jugendverderber", "Verfasser von Humbug". Cantor wiederum beschwert sich beim Kulturminister. Es entbrennt eine Art Glaubenskrieg um Cantors Mengenlehre. Kronecker behauptet: "Gott hat die natürlichen Zahlen erschaffen, alles andere ist Menschenwerk."

Manisch-depressive Schübe

Cantor, der entdeckt, dass es eine ganze Hierarchie an Unendlichkeiten gibt, kämpft verzweifelt um Anerkennung. 1884 hat er seinen ersten Nervenzusammenbruch und wird in einer Klinik behandelt. Er leidet zunehmend unter manisch-depressiven Schüben. Georg Cantor stirbt 1918 in Halle mit 72 Jahren.

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