Stau in Lüdenscheid

Wie die kaputte Rahmedetalbrücke Lüdenscheid auf den Kopf stellt

Märkischer Kreis | Unterwegs

Stand: 29.11.2023, 15:07 Uhr

Im Dezember 2021 wurde die Rahmedetalbrücke auf der A45 gesperrt. Einsturzgefahr. Seitdem erstickt Lüdenscheid im Verkehrschaos. Wie geht es den Menschen in der Stadt?

Von Alina Höngen

Ein Auto nach dem nächsten fährt an Werner Schüttler vorbei. Besonders laut wird es, wenn ein Lastwagen an dem 82-jährigen Lüdenscheider vorbeifährt. Schüttler greift in seine Tasche, holt sein Handy raus und misst den Verkehrslärm. 85 Dezibel zeigt das Display an. "Diesen Lärm habe ich 24 Stunden am Tag. Ohne Pause. Das ist fast nicht auszuhalten", sagt er.

Seit fast zwei Jahren ächzt Lüdenscheid unter den Folgen der Sperrung der A45

00:40 Min. Verfügbar bis 22.11.2025

Schüttler wohnt in Lüdenscheid an der Umleitungsstrecke der gesperrten A45. Die wurde wegen schwerer Schäden an der Rahmedetalbrücke im Dezember 2021 gesperrt. Seitdem fahren täglich mehrere tausend Autos und Lkw an Schüttlers Haus vorbei. Die Stadt ächzt unter den Folgen des Verkehrschaos. Im Mai wurde die marode Brücke gesprengt. Der Neubau läuft, dauert aber mehrere Jahre.

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Idyllisch Wohnen: So gut wie unmöglich

Blauer Himmel. Die Sonne scheint. Martina Burgardt-Körnich ist in ihrem Garten unterwegs. Hinter ihr watscheln die beiden Gänse Timmi und Tilda. "Früher war der Garten mein Hobby", erzählt die 59-Jährige als sie an ihrem Gemüsebeet vorbeiläuft. "Die Sperrung der Rahmedetalbrücke hat mir das genommen." Das Haus von Burgardt-Körnich und ihrem Mann liegt direkt neben dem von Schüttler an der Umleitungsstrecke. Statt Vogelgezwitscher hören sie seit fast zwei Jahren tausende Fahrzeuge an ihrem Grundstück vorbeirasen.

Im hinteren Teil des Gartens bleibt Burgardt-Körnich vor einem Zaun stehen. Er ist 25 Meter lang und über zwei Meter hoch. "Das ist unser Lärmschutzzaun", sagt sie. Burgardt-Körnichs Mann Thomas Körnich hat ihn gebaut und dafür zahlreiche Videos im Internet angeschaut. Zwei Wochen hat es gedauert, bis das Holz mit Schaumstoffmatten beklebt und aufgestellt war. Nun schützt der Zaun das Haus und den Garten wenigstens etwas vor dem Lärm.

Foto von einem Lärmschutzzaun aus Holz und Styropor in einem Garten

Thomas Körnich hat einen Lärmschutzzaun in seinem Garten gebaut. Er soll den Verkehrslärm mindern.

Ins Gästezimmer umgezogen

Thomas Körnich sitzt mit seinem Nachbarn Schüttler im Wintergarten. Bei einer Tasse Kaffee schwelgen die beiden in Erinnerungen. "Wir hatten eine super Nachbarschaft", sagt Körnich. "Man konnte hier gut leben", stimmt Schüttler ihm zu. Heute sei das anders, berichten die zwei.

"Wir schlafen mittlerweile im Gästezimmer, weil das nicht an der Straße liegt", erzählt Körnich. Wenn er nachts wach werde, sei an Schlaf nicht mehr zu denken. "Ehrlich gesagt haben wir überlegt, ob wir umziehen sollen. Aber wer will unser Haus mit all dem Verkehrslärm kaufen?" Außerdem hängt das Herz des 59-Jährigen an dem Haus. Immerhin wohnt er hier schon ein Leben lang.

24 Stunden am Tag hört Familie Körnich die Autos und Lkw, die über die Umleitungsstrecken fahren

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Verbot für ortsfremde Lkw

Über die marode Rahmedetalbrücke fuhren bis 2021 täglich 64.000 Fahrzeuge – darunter 13.000 Lkw. Seit der Sperrung der A45 schlängeln sich tausende von ihnen durch Lüdenscheid – und damit am Haus der Körnichs und von Schüttler vorbei.

Zwei ältere Männer stehen in einem Garten und schauen in die Kamera

Thomas Körnich und Werner Schüttler wohnen an der Umleitungsstrecke. An Schlaf ist für sie oft nicht zu denken

Schon kurz nach der Sperrung gründet sich in Lüdenscheid eine Bürgerinitiative. Auch Körnich und Schüttler engagieren sich dort. Über ein Jahr kämpft die Gruppe für ein Durchfahrtsverbot für Lkw, die kein Ziel in Lüdenscheid anfahren. Im Juni 2023 kommt es – zumindest in ähnlicher Form. Seitdem dürfen Lkw über 3,5 Tonnen, die im Umkreis von 75 Kilometern keine Ware abholen oder ausladen, nicht mehr durch Lüdenscheid fahren.

Die Rahmedetalbrücke

  • Die Rahmedetalbrücke war 453 Meter lang, 70 Meter hoch und 70.000 Tonnen schwer
  • Sie ist Teil der A45, die den Süden Deutschlands mit dem Ruhrgebiet verbindet
  • Die Brücke wurde in den 60er Jahren gebaut. Sie war ausgelegt für 25.000 Fahrzeuge am Tag. Zuletzt fuhren täglich 64.000 Fahzeuge über die Brücke – darunter 13.000 Lkw.
  • Am 7. Mai wurde die Rahmedetalbrücke gesprengt
  • Der Neubau soll 2027 fertig sein
  • Die Rahmedetalbrücke ist eine von vielen sanierungsbedürftigen Brücken in NRW. Alleine auf der A45 müssen 60 Brücken neugebaut werden.

Nach Angaben der Stadt Lüdenscheid zeigt das Verbot Wirkung. Der Anteil des Schwerlastverkehrs ist um 50 Prozent zurück gegangen. "Es war direkt spürbar leiser", erinnert sich Körnich. "Aber momentan fühlt es sich wieder schlimmer an. Ich glaube, das liegt daran, dass die Kontrollen von Polizei und Ordnungsamt nachgelassen haben."

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Existenzangst: 90 Prozent weniger Umsatz

Einige Kilometer weiter, fernab vom Garten der Körnichs, ihrem Schallschutzzaun und dem Kaffeekränzchen, hängt Heike Sieling-Laudien bunt schimmernde Fischköder ins Regal. "Heute habe ich 4,50 Euro verdient", sagt die 47-Jährige nüchtern. Die Angelsaison neigt sich dem Ende zu. Große Umsätze sind nicht mehr drin. Doch dann kommt noch ein Kunde vorbei. Ihm ist die Spitze seiner Angel kaputt gegangen. "Kein Problem, wir bekommen hier alles repariert", sagt Sieling-Laudien.

Das Angellädchen Laudien gibt es mittlerweile seit 20 Jahren. Es ist ein Familiengeschäft in der dritten Generation. "Unser Herz hängt hier dran", erklärt Sieling-Laudien. Doch die letzten Monate waren nicht einfach. Bis Ende 2022 liegt der Laden direkt an der Umleitungsstrecke der gesperrten A45. Das hat Folgen: Wegen der vielen Staus bleibt ein Großteil der Kunden weg. Die Einnahmen brechen um 90 Prozent ein.

"Wir wussten gar nicht mehr, wie wir die Miete bezahlen sollen", erinnert sich Sieling-Laudien. "Im Juni 2022 haben wir gesagt: Wir müssen umziehen oder schließen." Sieling-Laudien und ihre Tochter machen sich auf die Suche nach einem neuen Ladenlokal. Sie werden fündig und ziehen im Januar 2023 um. Seitdem sind die Einnahmen wieder gestiegen – auch wenn sie immer noch 30 bis 40 Prozent unter den Einnahmen vor der Brückensperrung liegen.

Frau mit roten Haaren in einem schwarzen Pullover steht vor einer Wand mit Angelzubehör und schaut in Kamera

Heike Sieling-Laudien verkauft Angelzubehör. Seit der Sperrung bleiben viele Kunden weg.

Wirtschaftlicher Schaden von 1,8 Milliarden Euro

Wie Sieling-Laudien und ihrer Tochter geht es aktuell vielen Geschäften in der Region. Die Sperrung der Rahmedetalbrücke hat nicht nur Lüdenscheid, sondern auch Südwestfalen hart getroffen. In einer Studie schätzt die IW Consult GmbH, eine Tochtergesellschaft des Instituts der deutschen Wirtschaft, den wirtschaftlichen Schaden bis zur Fertigstellung der neuen Brücke auf mindestens 1,8 Milliarden Euro.

Die Auswirkungen und Folgen der Sperrung der A45 sind längst spürbar. Logistikunternehmen beklagen, dass Lkw-Fahrten im Schnitt mehr als eine Stunde länger dauern. Pendler sind die Staus leid und kündigen ihre Jobs. Die Gewinnung von Fachkräften wird angesichts des Verkehrschaos immer schwieriger – und das, obwohl Südwestfalen Deutschlands drittstärkste Wirtschaftsregion ist.

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Ständig Stau: Ausgebremst im Verkehrschaos

Im Schneckentempo schleicht der Verkehr durch die Lüdenscheider Innenstadt. Die Tachonadel von Ariane Heinrichs rotem Polo pendelt zwischen 15 und 20 km/h. Dann leuchten die Bremslichter des Lkw vor ihr rot auf. Heinrich bremst, atmet tief durch und murmelt: "Das kann heute länger dauern. Es ist kurz nach halb vier. Jetzt wollen alle nach Hause."

Heinrich ist 35 Jahre alt. Sie arbeitet als Mediengestalterin. Zweimal in der Woche fährt sie für ihren Job rund 40 Kilometer von Hagen nach Meinerzhagen – dabei muss sie durch Lüdenscheid. "Früher habe ich 30 Minuten gebraucht, davon kann ich heute nur träumen", erzählt sie. Denn egal welchen Weg Heinrich nimmt, überall droht Staugefahr. Besonders auf der offiziellen Umleitungsstrecke in Lüdenscheid.

Foto von einem Autorückspiegel in dem ein Stau zu sehen ist

Wer durch Lüdenscheid fährt, muss immer wieder mit Stau rechnen

60 Minuten für neun Kilometer

Mit ihren Fingern trommelt Heinrich auf dem Lenkrad. Dann endlich erlöschen die Bremslichter des Lkw vor ihr. In Schrittgeschwindigkeit fährt Heinrich an Wohnhäusern, einem Getränkemarkt und einer Autowerkstatt vorbei. Dann zeigt sie aus der Frontscheibe nach draußen: "Da oben stand die Rahmedetalbrücke. Jetzt sieht man die Bagger, die dort arbeiten."

Bildergalerie: Vom imposanten Bauwerk zu Schmutz und Staub

Früher fuhren zehntausende Fahrzeuge über die riesige Autobahnbrücke. Dann die Sperrung und die Entscheidung: Die Rahmedetalbrücke muss gesprengt werden.

Rahmedetalbrücke

So sah die alte und marode Rahmedetalbrücke aus. Der Bau wurde 1968 fertiggestellt.

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So sah die alte und marode Rahmedetalbrücke aus. Der Bau wurde 1968 fertiggestellt.

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Im Dezember 2021 wurde die Brücke für den Verkehr gesperrt. Gutachter hatten schwerwiegende Schäden an ihr entdeckt.

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Kurz vor ihrer Sprengung wurde die Brücke zur Leinwand: Eine Gruppe von Künstlern malte unbemerkt den Schriftzug "Lasst und Brücken bauen" auf die ehemalige Fahrbahn. Die Bilder gingen um die Welt.

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Am 7. Mai 2023 wurde die marode Brücke um Punkt 12 Uhr gesprengt. Rund 150 Kilo Sprengstoff brachten sie zum Einsturz.

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Ein lauter Knall, riesige Staubwolken und die Rahmedetalbrücke war Geschichte. Aus ganz NRW reisten Schaulustige an, um das Spektakel aus der Ferne anzuschauen.

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Nach der Sprengung mussten monatelang Brückenteile und 100.000 Kubikmeter Erdmasse weggeräumt werden. Im Oktober wurde dann der Spatenstich für den Neubau gesetzt.

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Die Straße wird immer voller. Autos, Lkw und Motorräder fahren an und stoppen wenige Meter später. Kurz bevor Heinrich die A45-Auffahrt Lüdenscheid-Nord erreicht, geht gar nichts mehr. Die Ampel ist grün, aber niemand fährt. "So macht Autofahren keinen Spaß", sagt Heinrich. "Das Schlimme ist, dass dieser Stau seit fast zwei Jahren normal ist."

Nach ein paar Minuten geht es endlich weiter. Für die neun Kilometer lange Umleitungsstrecke braucht Heinrich heute 60 Minuten. Dann setzt sie den Blinker und biegt auf die A45 ab. Das Verkehrschaos lässt sie hinter sich – zumindest für diesen Tag.

Endet das Verkehrschaos 2026?

Bis das Verkehrschaos endgültig vorbei ist, dauert es noch. Anfang Oktober gab es den offiziellen Spatenstich für die neue Rahmedetalbrücke. Seitdem legen Bagger Baustellenstraßen an. Außerdem werden die ersten Brückenpfeiler hochgezogen. Im Sommer 2026 soll die erste Brückenhälfte für den Verkehr freigegeben werden. Die komplette Brücke soll 2027 fertig sein.