Heinrich Böll - Hörwerke Originalaufnahmen 1952 – 1985

Stand: 19.09.2017, 18:08 Uhr

Heinrich Böll in Originalaufnahmen. Anlässlich des 100. Geburtstags des Kölner Literaturnobelpreisträgers erscheint jetzt eine großartige Edition mit Lesungen, Reden und Interviews von Heinrich Böll, die auch die Zeitgeschichte widerspiegeln.

Von Christel Wester

Zum 100. Geburtstag

Am 21. Dezember ist der 100. Geburtstag von Heinrich Böll, der auch heute noch zu den bekanntesten Deutschen gehört – über 30 Jahre nach seinem Tod 1985 im Alter von 67 Jahren. Seine Bücher verstauben heute jedoch weitgehend in den hinteren Regalen, im deutschen Literaturbetrieb halten viele Böll für antiquiert und erkennen in seinen Texten nur noch eine historische Qualität, keine literarische. Schon zu Lebzeiten galt der Kölner Schriftsteller vor allem als politischer Mahner und Moralist. Doch Heinrich Böll prägte die deutsche Literatur fast vier Jahrzehnte lang. Er war es, der deutschen Autoren nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland zu neuem Ansehen verhalf, denn seine Romane und Erzählungen wurden internationale Bestseller und 1972 bekam Heinrich Böll den Literaturnobelpreis. Es ist an der Zeit, ihn zu seinem 100. Geburtstag neu zu entdecken. Zu den ersten Geburtstagspublikation in diesem Herbst zählt ein Hörbuch: Eine Neuauflage von Originalaufnahmen Heinrich Bölls von 1952 bis 1985. "Hörwerke" lautet der Titel des Hörbuches.

Der Literaturnobelpreis

Heinrich Böll:
"Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zu erklären, dass ich das Thema, über das ich sprechen wollte, gewechselt habe."

Heinrich Böll

Heinrich Böll

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises kann man Heinrich Böll als jemanden erleben, der auch bei solch einem Anlass den hohen feierlichen Ton meidet und unaufgeregt erzählt.

Heinrich Böll:
"Ich habe versucht, mich der Vernunft der Poesie anzunähern, weil ich feststellte in Gesprächen und Diskussionen, und auch in Publikationen, dass sich eine gewisse Reduzierung literarischer und künstlerischer Probleme allgemein auf die Formel entweder Information oder Kunst zu reduzieren scheint."

Fantasie und Vorstellungskraft

Nicht nur in seiner Nobelpreisrede stellt Heinrich Böll Fantasie und Vorstellungskraft als menschliche Fähigkeiten dar, deren Ausbildung und Förderung er für ein lebenswichtiges Ziel hält – und zwar sowohl für den Einzelnen als auch für eine humanitäre Gesellschaft.

Heinrich Böll:
"Ich glaube nicht, dass Erfahrung eine sehr große Rolle spielt. Weil umgekehrt gedacht, sehr viele Menschen so viel erfahren haben, erlitten, erfahren, erlebt, was sie gar nicht bewegt hat, was auch ihre Fantasie nicht mobilisiert hat, also denk an etwa den Krieg."

Allein die Fantasie

Im Gespräch mit seinem Kollegen Siegfried Lenz vertritt Böll die Ansicht, dass allein die Fantasie ermögliche, uns in andere Menschen hineinzuversetzen. Und genau das lehre die Literatur auf eine sinnliche und unauffällige Weise. Nur in diesem Sinne kann man Heinrich Böll einen Vertreter der engagierten Literatur nennen. Denn er verwechselte keineswegs – wie ihm oft unterstellt wurde – Romane und Erzählungen mit politischen Leitartikeln. Davon kann man sich in dieser großen Edition von Originalaufnahmen überzeugen. Dieses Hörbuch enthält Lesungen, Essays, Reden und Gespräche aus allen Schaffensperioden, chronologisch geordnet und von einem umfangreichen Booklet begleitet, in dem Heinrich Bölls Neffe Viktor Böll den Entstehungskontext erläutert.

Zu den bewegendsten Aufnahmen gehört das letzte Interview, das Heinrich Böll im Sommer 1985 einen Monat vor seinem Tod gegeben hat.

Heinrich Böll:
"Was die meisten vergessen haben, die meisten Deutschen vergessen haben, die meisten auch nicht erlebt haben, weil sie die damalige Zeit nicht bewusst erlebt haben. Es war kein schöner Zustand, ein Deutscher zu sein."

Hier lässt er sein eigenes Leben und die Geschichte der Bundesrepublik Revue passieren. Dabei spricht der Wegbereiter der Grünen auch über Veränderungen seiner politischen Einstellung.

Heinrich Böll:
"Wahrscheinlich habe ich sogar noch 1953 die CDU gewählt, könnte sein."

Mittwochsgespräche im Wartesaal

Am Schreibtisch Heinrich Bölls: Der Schriftsteller in seinem Arbeitszimmer in Köln.

Böll in seinem Arbeitszimmer in Köln

27-einhalb Stunden umfasst diese Originalton-Dokumentation, in der man Böll in den unterschiedlichsten Situationen erlebt. Dazu gehört ein Auftritt bei den legendären Mittwochsgesprächen im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs im Jahr 1952, wo Böll die sogenannte Trümmerliteratur verteidigt. Und dazu gehört ebenfalls die berühmte Bonner Hofgartenrede bei der Friedensdemonstration 1982. Aber Böll liest auch aus seinem literarischen Werk. Hier ein Ausschnitt aus Bölls "Irischem Tagebuch", das in seiner unnachahmlichen Mischung aus Alltagsbeobachtung, Melancholie und Humor zu seinen schönsten Texten gehört.

Heinrich Böll:
"Wenn Seamus einen trinken will, muss er sich wohl überlegen, für wann er sich seinen Durst bestellt. So lange die Fremden im Ort sind, und es sind deren nicht in allen Orten, kann er seinem Durst einige Freiheit lassen. Denn die Fremden dürfen trinken, wann immer ihnen Durst kommt. Und so kann auch der Einheimische sich getrost zwischen sie an die Theke stellen, zumal er ja ein folkloristisches, den Fremdenverkehr förderndes Element ist."

Das Lebensgefühl der Nachkriegszeit

Literarische Kostbarkeiten sind auch die frühen Satiren, in denen Böll sensibel, aber zugleich mit spitzer Feder das Lebensgefühl der Nachkriegszeit nachzeichnet. Zu seinen literarischen Mitteln gehört dabei auch die Selbstironie.

Heinrich Böll:
"Seit einigen Wochen besteige ich jeden Morgen gegen 7:30 Uhr die Straßenbahn an der Ecke Roonstraße, halte bescheiden wie alle anderen dem Schaffner meine Wochenkarte hin, habe mein Frühstücksbrot in einer flachen Aluminiumdose, die Morgenzeitung zu einer leichten Keule zusammengerollt in der Hand. Ich biete den Anblick eines Bürgers, dem es gelungen ist, der Nachdenklichkeit zu entrinnen. Nach der dritten Haltestelle stehe ich auf, um meinen Sitzplatz einer der älteren Arbeiterinnen anzubieten, die an der Behelfsheimsiedlung zusteigen. Wenn ich meinen Sitzplatz sozialem Mitgefühl geopfert habe, lese ich stehend weiter in der Zeitung, erhebe hin und wieder schlichtend meine Stimme, wenn der morgendliche Ärger die Zeitgenossen ungerecht macht. Ich korrigiere die gröbsten politischen und geschichtlichen Irrtümer, nur die gröbsten, etwa indem ich die Mitfahrenden darüber aufkläre, dass zwischen SA und USA ein gewisser Unterschied besteht."

Literarische Grabungsarbeit

Heinrich Bölls langsamer, fast leiernder rheinischer Singsang dringt sanft ins Ohr und steht in einem wohltuenden Kontrast zum Sprachduktus vieler seiner Zeitgenossen, die den schnarrenden Tonfall, mit dem sie aufwuchsen, noch bis in die 1960er Jahre hinein nicht ablegen konnten. Bölls Stimme verkörpert dagegen den überzeugten Zivilisten, der in seinen Erzählungen den desertierten Soldaten ebenso verteidigt, wie den Nonkonformisten, der sich dem neuen ökonomischen Diktat der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft verweigert. Der Schriftsteller und Böllpreisträger Uwe Timm hat die Erzählweise seines Kollegen einmal mit der Arbeit eines Archäologen verglichen: Böll leiste "literarische Grabungsarbeit" und zeige, wie die vergangenen Epochen als gesellschaftliches Ferment weiterwirken. Genau das kann man wunderbar in diesem Hörbuch nachvollziehen, das Aufnahmen aus vier Jahrzehnten der Bonner Republik versammelt.