Proteste von tibetischen Mönchen in Indien im Oktober 2011

Gewalttätige Proteste trotz Gewaltlosigkeits-Prinzip

Auch im Buddhismus gibt es Konflikte

Stand: 09.04.2008, 17:00 Uhr

Wie geht eine Religion, die Gewaltlosigkeit propagiert, mit Konflikten um? Wie passen die gewaltsamen Proteste gegen China ins buddhistische Tibet? WDR.de sprach mit dem Buddhismusexperten Michael Zimmermann.

WDR.de: Wir nehmen Buddhisten generell als sehr friedliche Zeitgenossen wahr. Gibt es bei ihnen tatsächlich so wenig Konflikte oder sehen wir sie nur nicht?

Michael Zimmermann: Man sollte strikt trennen zwischen buddhistischen Laien und Mönchen. Laien sind Menschen, die ein normales Leben führen und irgendwelchen Berufen nachgehen. Wenn Sie von "friedlichen Zeitgenossen" sprechen, haben Sie wohl eher Mönche im Auge. Die Mönchs- und Nonnenorden im Buddhismus unterliegen bestimmten Verhaltensregeln, ähnlich wie christliche Nonnen und Mönche. Die Ethik dieser beiden Gruppen unterscheidet sich stark von der der Laien. Mönche und Nonnen haben relativ strikte Verhaltensregeln und einer der Punkte ist von frühester Zeit an die Gewaltlosigkeit.

Bei den Laien wird hier differenziert. Einerseits gibt es da die Individualethik. Da ist ganz klar: Sie sollen keine lebenden Wesen töten. Das bezieht sich nicht nur auf Menschen, wie in unseren westlichen Traditionen, sondern auf alle fühlenden Lebewesen. Sie dürfen nicht einfach auf den Moskito hauen, der bei Ihnen Blut saugen will. Wenn wir aber jetzt in die gesellschaftliche Perspektive, in die politische Dimension gehen, können Sie sich leicht vorstellen, dass man mit so einer absoluten Haltung der Gewaltlosigkeit nicht sehr weit kommt.

WDR.de: Beobachten Sie im Westen eine selektive Wahrnehmung?

Zimmermann: Ja. Zum Beispiel: Als ich den Sammelband "Buddhismus und Gewalt" heraus gegeben habe, wurde ich gefragt, ob das nicht ein Druckfehler sei, es müsse doch heißen "Buddhismus und Gewaltlosigkeit". Für viele Leute war es unfassbar, dass Buddhismus etwas mit Gewalt zu tun haben könnte. Aber das genau war ja mein Anliegen, zu zeigen: Es gibt auch Fälle, in denen Buddhisten, buddhistische Mönche sogar, mit Gewalt reagiert haben. Das darf man nicht leugnen. Aber die Dimension ist eine ganz andere im Vergleich mit der christlichen in Europa.

WDR.de: Darf der buddhistische Laie Gewalt anwenden?

Zimmermann: "Der buddhistische Laie" - wer ist das? Jemand, der im Hochland von Tibet lebt? Ein Thailänder oder ein Buddhist in Deutschland? Die buddhistische Tradition ist wahnsinnig vielfältig. Insgesamt würde ich die Wirkung des Buddhismus auf eine Gesellschaft nicht überschätzen, besonders bei Fragen zu Konflikten oder Konfliktlösungspotentialen. Dazu als Hintergrund:

Der Buddhismus ist ursprünglich eine Asketen-Religion gewesen. Buddha und seine engsten Vertrauten sind aus der Gesellschaft ausgestiegen. Sie haben gesagt: "Das ist alles Samsara hier, wiederkehrendes Leid. Es hat überhaupt keinen Wert, sich da noch weiter zu verausgaben. Wir wollen durch den Ausstieg aus der Gesellschaft einen Weg zum Nirwana finden." Sie haben die Gesellschaft verlassen, die Totenrituale wurden vollzogen. Sie haben dann wenig Interesse daran gezeigt, die Gesellschaft in irgendeiner Weise zu reformieren.

WDR.de: Das klingt nach Ausweichen vor Konflikten.

Zimmermann: Ja, das kann man so sehen. Im Buddhismus ist die Tendenz sich auszuklinken, in ein Kloster zu gehen und da auf die eigene Erlösung zu hoffen, recht stark ausgeprägt. Insofern hat für mein Geschichtsverständnis der Buddhismus nie eine bedeutende gesellschaftspolitische Dimension entwickelt.

WDR.de: Deswegen auch keine Glaubenskriege?

Zimmermann: Ja, in gewisser Weise schon. Sie können es positiv so sehen. Sie können es aber auch negativ sehen, indem Sie sagen: "Die sind immer politisch passiv gewesen. Sie haben sich angepasst, egal welches Regime gerade geherrscht hat." Das hat sich anders entwickelt bei uns im Christentum, wo christliche Herrscher schon sehr früh begonnen haben, sich aktiv für Politik zu interessieren und sie mit zu gestalten.

WDR.de: Woher kommt der Ruf des Buddhismus so konfliktlos zu sein? Wie passt das zu den gewalttätigen Olympia-Protesten in Tibet?

Zimmermann: Der Ruf ist maßgeblich geprägt durch den Dalai Lama in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn man in diesen Tagen in der Öffentlichkeit über Buddhismus redet, wird damit oft die tibetische Tradition gemeint.

Der Dalai Lama selbst sagt, dass Gewaltlosigkeit im Moment der einzige Weg ist. Er sagt aber auch, dass es um die Motivation geht. Es könne Situationen geben, wo es nötig ist, Gewalt anzuwenden. Wichtig ist die Gesinnung, warum tue ich das? Wenn ich Gewalt anwende aus Hass, aus Ärger, um anderen zu schaden, dann ist es schlecht. Wenn ich Gewalt anwende, um anderen Lebewesen zu helfen, dann kann das durchaus eine Position sein, die ein Buddhist einnehmen muss.

Allerdings sagt er im Fall von Tibet ganz klar: "Wir haben überhaupt keine Chance gegen die Übermacht der Chinesen, das wäre reiner Selbstmord, wenn wir da Gewalt anwendeten." Und das haben wir in den letzten Tagen auch im Fernsehen gesehen. Der Dalai Lama sagt: "Wenn das in Gewalt umschlägt in Tibet, ich stehe nicht dahinter, ich trete als politischer Repräsentant der Exilregierung zurück."

WDR.de: Wird Buddhismus politisch instrumentalisiert?

Zimmermann: Klar, wie jede andere Religion auch. Religionen haben immer, wenn sie über den Individualbereich hinaus gehen, eine gewisse politische Dimension. Ein gutes Beispiel ist Sri Lanka. Da herrscht schon seit über 20 Jahren ein Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen Mehrheit und Tamilen im Nordosten der Insel. "Viele Buddhisten hört man da sagen: 'Der Buddha war selbst drei Mal in Sri Lanka'" - das beruht auf einem Mythos, er war dort natürlich gar nicht - "deshalb ist die gesamte Insel eine heilige buddhistische Insel und es ist unsere Pflicht als Buddhist, diese Insel auch als buddhistisch zu erhalten, bzw. buddhistisch zu machen." Und damit liefern sie den Fundamentalisten und den Militaristen beste Argumente, um gegen diese Minderheit der Hindus "in einem buddhistischen Land", vorzugehen.

WDR.de: Aber unsere Wahrnehmung im Westen ist trotzdem sehr positiv was das Thema Konflikte und Buddhismus betrifft.

Zimmermann: Ja, das ist wohl so. Aber man darf auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Wenn man die Anzahl der blutigen Kriege betrachtet, die von europäischem Boden ausgehend im Namen des Christentums geführt wurden, dann werden Sie nichts Vergleichbares im buddhistischen Bereich finden. Und ich habe bisher noch nicht gehört, dass Buddhisten sich untereinander bekriegen, weil man an verschiedene Doktrinen glaubt. Das wäre sehr ungewöhnlich.

WDR.de: Dabei gibt und gab es viele Abspaltungen und Schulen. Wieso geht das gut?

Zimmermann: Es gab schon Auseinandersetzungen in Tibet unter verschiedenen Schulen, unter verschiedenen großen Klöstern. Aber da ging es nicht um Doktrinen wie bei den Christen der Streit um die Jungfrau oder die Dreifaltigkeit. Da ging es um blanke Machtinteressen.

Der Impuls, so etwas wie die "einzig richtige Lehre" zu finden, ist nicht so stark. Man hat es akzeptiert, dass Buddha selbst je nach den Umständen, je nachdem mit wem er gesprochen hat, verschiedene Aspekte seiner Lehre hervorgehoben hat. Also für unterschiedliche Berufsgruppen, Personen aus unterschiedlichen Ständen hat er immer unterschiedliche Metaphern gebraucht. Und ich glaube, dass man heute in den buddhistischen Ländern sagt: "Ja, so wie das damals schon unterschiedlich gelehrt wurde, so haben wir heute auch verschiedene Schulen, die unterschiedliche Aspekte des Buddhismus betreffen, die aber alle irgendwie buddhistisch sind."

WDR.de: Das ist dann doch anders als bei Christen oder Moslems, wo sich zum Beispiel Schiiten und Sunniten zum Teil bis aufs Blut bekämpfen.

Zimmermann: Ich denke, da spielt das Gebot der Gewaltlosigkeit hinein. Man würde es nicht unbedingt als sehr vorteilhaft betrachten, wenn man eine Religion, die Gewaltlosigkeit groß schreibt, versucht zu verbreiten oder zu behaupten, indem man gewalttätig gegen andere vorgeht.

WDR.de: Wird denn missioniert?

Zimmermann: Kaum. Es gibt Ansätze, besonders im 20. Jahrhundert. Aber im Grunde sind Buddhisten sehr entspannt. Sie sagen "Na ja, wenn du es jetzt nicht begriffen hast, du hast noch einige Leben vor dir. Du kriegst das schon noch irgendwann mit." Wohingegen man als Christ denkt: "Es ist nur die eine Möglichkeit, du musst das jetzt mitkriegen oder es ist für die Ewigkeit vorbei."

WDR.de: Also haben Buddhisten sehr wohl einen absoluten Wahrheitsanspruch wie andere Religionen auch, können damit jedoch entspannter umgehen wegen der Idee der Wiedergeburt?

Zimmermann: So kann man das sagen. Was man oft hört, dass Buddhisten tolerant sind und dass sie ihre Gedankenwelt, ihre Ideen, ihre Doktrinen relativierend neben andere stellen - das glaube ich nicht. Buddhistischen Würdenträger würden eher sagen: "Nein, der buddhistische Weg ist schon der beste und schnellste." Wahrscheinlich würden sie nicht radikal ausschließen, dass ein Christ das nicht erreichen kann, denn einen Glaubenszwang gibt es nicht. Während im Christentum gesagt wird: "Du musst erstmal glauben an Jesus und an Gott, sonst gibt es da überhaupt keinen Weg heraus aus der Misere." Buddhisten sagen pragmatisch: "Es kommt darauf an, wie du lebst."

WDR.de: Buddhisten geht es mehr um die Methode?

Zimmermann: Genau! Wenn du an den Christengott glaubst, aber dabei keine Tiere tötest, nicht stiehlst, usw. dann lebst du nach bestimmten buddhistischen Grundsätzen und dann hast du durchaus die Chance aus dem Samsara, dem Leid des Alltages, heraus zu kommen.

WDR.de: Gibt es denn im persönlichen Bereich buddhistische Konflikt-Lösungsstrategien?

Zimmermann: Ja, selbstverständlich. Ich würde das nahezu auf den persönlichen privaten Bereich limitieren. Ein Buddhist hat ja spirituelle Werkzeuge, um seinen Geiste und seine Emotionen zu entwickeln. Er würde sagen: "Wir warten nicht bis zum letzten Augenblick, bevor wir in eine wirklich konfliktträchtige Situation geraten. Wir versuchen jetzt schon uns so zu entwickeln, dass es gar nicht zu konfliktträchtigen Situationen kommt." Und wenn es tatsächlich mal zu so einer Situation kommt, dass man dann nüchtern, ohne emotional aufgewühlt zu sein, in seinen eigenen Geist, in seine eigene Emotionswelt schauend, friedlich damit umgehen kann. Das ist der Hauptansatzpunkt.

WDR.de: Können Buddhisten gut zwischen ihrem eigenen Empfinden und der Sachlage unterscheiden? Sind sie sich besonders bewusst, dass Menschen emotionsgeladen und nicht perfekt sind?

Zimmermann: Zumindest im Idealfall. Als ich vor sechs Jahren nach Japan ging - ich war vier Jahre dort - hatte ich auch die Erwartung, dass das alles Buddhisten sind, und dass Konflikte anders gehandhabt werden, als bei uns. Aber gut, das sind auch nur Menschen und einige tun es so und die Mehrheit schafft es natürlich nicht.

WDR.de: Aber die Angehörigen der Weltreligionen reagieren unterschiedlich darauf, wenn sie eine Sünde beobachten. Ein fundamentalistischer Christ würde möglicherweise eingreifen.

Zimmermann: Da haben sie einen guten Punkt getroffen. Der Buddhist würde sagen: "Na ja, das ist sein Karma, wenn er das unbedingt machen will, können wir ihm nicht helfen." Während der Fundamental-Christ sagt, "um Gottes Willen, du kommst ja in die ewige Verdammnis!". So etwas gibt es im Buddhismus nicht. Da ist das immer ein Kreislauf und irgendwann kommen Sie aus diesem Höllenloch wieder heraus, wenn Sie da hineingeboren werden. Der Buddhist sagt: "Na ja gut, er muss halt erst die Erfahrung machen, er wird in der Hölle geboren und kommt da aber nach ein paar Leben wieder raus."Was für einen Buddhisten aber natürlich auch nicht heißt, dass ihm seine Mitmenschen und Tiere egal sind.

Das Gespräch führte Anneke Wardenbach.