Interview mit Ziya Pir, Abgeordneter der Oppositionspartei HDP

Stand: 31.08.2016, 11:44 Uhr

Ziya Pir ist Abgeordneter der Oppositionspartei HDP. Die HDP gilt als Kurdenpartei. Der 45-Jährige war einst Anhänger Erdoğans, heute aber ist er ein erbitterter Gegner. Um sich politisch zu engagieren, ist Ziya Pir 2015 aus Duisburg in die Türkei gezogen. Heute lebt er in Diyarbakır.

WDR: Was hat sich seit dem Putsch für Sie verändert?

Ziya Pir: Für mich und meine Arbeit hat sich eigentlich nicht viel geändert, weil als HDP-Abgeordneter arbeitet man immer unter Druck. Wir haben nach wie vor Schwierigkeiten, unsere Meinung auf der Straße zu sagen in Diyarbakır. Wir dürfen keine Pressearbeit auf der Straße machen, wir dürfen keine Meetings machen.

WDR: Nach dem Putsch gab es ein großes Fest zur Demokratie. Ihre Partei war die einzige, die nicht eingeladen war. Ihre Partei war aber auch gegen den Putsch. Oder hätten Sie sich von dem Putsch etwas erhofft?

Pir: Unsere Partei ist schon immer gegen Putsch gewesen - gegen alle Putschversuche in der Türkei. Und wir haben uns in der Nacht des Putsches schriftlich dazu geäußert, dass wir gegen den Putsch sind, und für die Demokratie - egal ob die Regierung uns gefällt oder nicht. Das ist eine gewählte Regierung, und die hat man zu beachten. Man kann gegen diese Regierung und gegen diesen Präsidenten mit legitimen Mitteln, mit Mitteln der Demokratie Oppositionsarbeit machen. Aber sobald jemand versucht, illegal - durch Militärputsch oder einen zivilen Putsch - gegen den Willen der Wähler etwas zu unternehmen, sind wir dagegen.

Wenn das ein Fest der Demokratie gewesen wäre, hätten wir das unterstützt. Aber es war kein Fest der Demokratie , sondern Staatspräsident Erdogan hat diese Stimmung, die gegen den Militärputsch vorhanden war, für sich ausgenutzt, um den Ausnahmezustand zu erklären. Und jetzt regiert er die Türkei mit Dekreten. Und die Dekrete haben in der Türkei Gesetzeskraft.

Ein Fest der Demokratie sieht anders aus. Erdoğan hat in der ersten Nacht noch über 10.000 Menschen verhaften lassen. Inzwischen sind über 40.000 Menschen festgenommen worden. Viele von ihnen sind jetzt in U-Haft und sind ihres Amtes enthoben worden, sprich: haben ihren Job verloren. Und keiner kann mir weismachen, dass man innerhalb von einem Tag oder wenigen Tagen 40.000 Menschen festnehmen kann, die angeblich diesen Putsch unterstützt haben sollen, oder die Gülenisten sein sollen.

WDR: Was hat Erdoğan nach dem Putsch erreicht?

Pir: Er hat genau das, was er will: Er wollte ja als Staatspräsident die gesamte Macht in einer Hand haben. Und das hat er jetzt. Er kann per Dekret regieren. Die Regierung ist inzwischen zu seinem Sprachrohr verkommen, die AKP-Fraktion im Parlament genauso. Sie müssen sich vorstellen, die AKP-Fraktion bringt keine eigenen Gesetzentwürfe ins Parlament ein. Die kommen alle über den Staatspräsidenten, über die Regierung ins Parlament. Also regiert er das Land, so wie er es haben möchte. Wem das nicht passt, der kommt einfach ins Gefängnis oder muss ins Exil gehen. Das ist momentan die Realität in der Türkei, es ist bittere Realität.

WDR: Was wird sich im Kurdenkonflikt ändern?

Pir: Ich glaube, kurz- und mittelfristig wird es für Kurden schwerer. Sie werden sehr stark unterdrückt, sie haben sehr viel Angst. Viele Mitarbeiter, viele Schlüsselpersonen sind in der Türkei festgenommen worden, manche sind ins Ausland geflüchtet, die, die zurückbleiben, also die ganz normale Bevölkerung, die hat jetzt Angst. Angst vor Repressalien. Und wer Angst hat, der kann leider nicht so arbeiten wie er arbeiten möchte. Und deswegen wird es für uns und für Kurden kurz- und mittelfristig etwas schwerer unter Erdoğan. Aber ich bin zuversichtlich und ich habe Hoffnung, dass sich langfristig vieles auch wieder verbessern muss. 

WDR: Bleiben Sie in der Türkei?

Pir: Man fragt mich immer: Sie sind ja Doppelstaatler, möchten Sie nicht aus der Türkei ausreisen? Sie könnten ja festgenommen werden - Ihre Immunität ist weg. Ich kann nicht ausreisen, weil ich knapp sechs Millionen Wähler habe. Wenn die ins Exil gehen könnten - alle zusammen -, dann könnte ich vielleicht auch gehen. Aber so lange die das nicht machen können, kann ich das auch nicht machen. Ich bleibe im Land.

WDR: Wohin steuert Erdoğan?

Pir: Wenn man keine Oppositionsarbeit machen würde, würde Erdoğan in die Autokratie und Diktatur steuern. Mit einer Türkei, die die westlichen Werte überhaupt nicht mehr beachtet. Deswegen versucht er sich etwas zu distanzieren vom Westen. Und sucht auch den Schulterschluss mit Putin und mit anderen "Beinahe"-Diktatoren im Nahen Osten.

Deswegen muss man ihn unter Druck setzen. Sowohl im Inland - das müssen wir machen - als auch vom Ausland her, und zwar vom westlichen Ausland, von Europa und von Amerika aus.

Ich glaube, Deutschland und die EU müssen sich endlich mal hinstellen, ihre Heuchelei aufgeben und Erdoğan und der türkischen Regierung ganz klar und offen ins Gesicht sagen: Wir möchten die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht abbrechen, weil das eine Sanktion gegenüber der türkischen Bevölkerung wäre. Aber wir werden dich sanktionieren, weil du dich sehr weit von unseren Werten und von unseren Abkommen entfernst.

WDR: Wie sieht die Zukunft der Türkei aus?

Pir: Es wird in der Türkei leider sehr, sehr dunkel. Das haben wir nicht mal in den 90er Jahren erlebt, wir haben das nicht beim Militärputsch in den 80er Jahren erlebt, was jetzt passiert. Nicht auszurechnen zwar, was passiert wäre, wenn die Putschisten erfolgreich gewesen wären, aber dieser Gegenputsch von Erdogan hat genau dieselben Auswirkungen, wie ein Militärputsch.

Das Land wird mit Dekreten regiert, die Opposition wird eingesperrt und eingeschüchtert, Zeitungen, Verlage, Fernsehsender werden geschlossen, egal, ob sie die Putschisten unterstützt haben oder nicht. Was hätte geschehen können, wenn die Putschisten an die Macht gekommen wären? Dasselbe, genau dasselbe.

Das Gespräch führte Marko Rösseler.