Gastbeitrag: "Istanbul – Leben mit dem Terror"

Stand: 29.06.2016, 18:30 Uhr

Der Anschlag auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen ist der fünfte große Terrorangriff in der Türkei in diesem Jahr. Tobias Dammers hat als Erasmus-Student in Istanbul zwei der Anschläge vor Ort miterlebt. Für die Aktuelle Stunde schreibt er über den Terror im Alltag.

Von Tobias Dammers

"Es war ja nur eine kleine Bombe", hat mir der Kioskverkäufer gesagt. Eine kleine Bombe, keine wirkliche Gefahr, kein Grund zur Sorge. Mitte April ist der Terror bis an "meine" Bushaltestelle gekommen. Stadtviertel Şişli-Mecidiyeköy in Istanbul, zehn Minuten von meiner Haustür entfernt. Und auch diese "kleine" Bombe hat Menschen verletzt, anfangs war sogar von Toten die Rede.

Der Terror wird Alltag

Es ist traurig, aber wahr: Der Terror ist in Istanbul ein Stück weit zum Alltag geworden. Eine Autoexplosion hier, ein Schusswechsel dort, tote Polizisten, verletzte Zivilisten. Den Kioskbesitzer hat das abstumpfen lassen - und auch an mir und an meinen Freunden habe ich ähnliches beobachtet: "Ein neuer Anschlag? Schon wieder? Schlimm sowas, wirklich …"

Aber Terror bleibt Terror. Bei kleinen Anschlägen, genau wie bei großen. Aber erst die großen Ereignisse, wie der Anschlag am Istanbuler Flughafen am Dienstagabend (28.06.2016), führen das wieder brutal vor Augen. Dann ist das Thema prominent in den Medien. Es gibt viele Tote, auch Ausländer sind betroffen. Auf Twitter kursieren verwackelte Livebilder, Freunde und Familien sorgen sich, beim Facebook-Safety-Check kann man sich als "sicher" markieren.

Veränderte Stimmung in der Stadt

Auch in der Stadt verändert sich nach großen Anschlägen die Stimmung - sowohl in der "Erasmus-Community", als auch bei türkischen Freunden, Mitbewohnern und Kommilitonen. Nach einem Anschlag im März in der "Istiklal Caddesi", der Haupteinkaufsstraße mitten im Zentrum der Stadt, stand Istanbul unter Schock. Normalerweise ist diese Straße immer überfüllt: Tagsüber wird geshoppt, abends gegessen, nachts gefeiert.

In den Tagen nach dem Anschlag war die Istiklal-Straße gespenstisch leer. Verlassen und verwaist. Meine Freunde und ich haben das Stadtzentrum gemieden. Viele Bekannte, Erasmus-Studenten wie Türken, sind sogar mehrere Tage nicht aus dem Haus gegangen. Türkische Uni-Kommilitonen sind geschockt, was aus ihrer Stadt geworden ist: "Gefühlt wie Bagdad", sagen sie, "dauernd Terror".

Aber dann? Ein paar Tage danach? Das Medienecho verstummt, die schwerbewaffneten Polizisten verschwinden, die Kontrollen werden nachlässiger. Der Alltag geht weiter, aber die Gefahr bleibt. Wir denken nur nicht mehr daran – bis der nächste große Anschlag kommt.

"Ich bin Ziel"

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich verstanden habe: Ich bin Ziel. Ich bin Europäer, ich bin Ausländer, ich halte mich an touristischen Orten auf. In der großen Politik zwischen der Türkei, Europa, militanten Kurdengruppen und der Terrorgruppe "IS" bin ich ein mögliches Anschlagsziel. Auch mich hätte jedes der Attentate treffen können. Bei einigen Explosionen war ich nur wenige Stunden vorher an genau den Detonationsorten.

Das deutsche Konsulat, die Universität und die Freunde aus Deutschland geben Ratschläge: Vermeide Menschenansammlungen. Fahre nicht mit der U-Bahn. Besuche keine touristischen Orte. Leider ist das nicht möglich in einem normalen, geregelten Alltag. Wer zur Uni will, muss Bus oder Metro fahren. Wer vor die Haustür tritt, landet früher oder später in einer Menschenmasse. "Aufpassen" ist nett gesagt, nur: Worauf soll ich eigentlich achten?

Ja, die Gefahr ist da. Sie lässt sich nicht wegdiskutieren. Aber deswegen meinen Alltag komplett umzustellen, das sehe ich nicht ein. Gleiches gilt für meine Freunde in Istanbul. Denn dann hätte der Terror sein Ziel wirklich erreicht.

Ein Gastbeitrag von Tobias Dammers, ehemaliger Erasmus-Student in Istanbul