Risse im Atomreaktor von Tihange

Belgisches Problem-AKW soll wieder ans Netz

Stand: 06.04.2015, 13:34 Uhr

Tausende Risse direkt am Reaktor-Kern: Das 40 Jahre alte Atomkraftwerk in Tihange direkt an der Grenze zu NRW ist ein Problemfall. Schon vor drei Jahren hat das die Bewohner in der Region alarmiert. Jetzt gibt es neue beunruhigende Nachrichten.

Bröckelnder Putz, Risse im Beton: Das Atomkraftwerk Tihange an der Maas ist in die Jahre gekommen, das sieht man auf den ersten Blick. Einen der drei Reaktoren musste der Betreiber Electrabel bereits abschalten - aus Sicherheitsgründen. An Äußerlichkeiten liegt es nicht. Schäden im Innern der Schutzhülle sind das Problem. Der Atomkraftgegner Jörg Schellenberg fürchtet eine Katastrophe: "Unsere Forderung ist, dass dieser Reaktor niemals wieder ans Netz gehen darf, weil es viel zu gefährlich ist."

65 Kilometer Luftlinie bis Aachen

Der Gründer des Aktionsbündnisses gegen Atomkraft in Aachen sorgt sich besonders um den Reaktordruckbehälter. Vor drei Jahren fanden Techniker bei Ultraschalluntersuchungen 2.000 Risse, ausgerechnet am stählernen Druckbehälter des zweiten Reaktors. Darin befinden sich die radioaktiven Brennstäbe. Im Betrieb herrschen hier hohe Temperaturen und riesiger Druck. So hoch, dass der Druckbehälter bersten könnte. Doch dafür gibt es keinen Beleg, sagt der Kraftwerksbetreiber. Die Folgen eines Reaktorunfalls würden auch Deutschland treffen, warnt Schellenberg. Zwischen Tihange und Aachen liegen gerade mal 65 Kilometer Luftlinie. Bei Westwind ist eine radioaktive Wolke schnell in Nordrhein-Westfalen.

Atomaufsicht: "Da sind immer Fehler im Stahl"

Die belgische Atomaufsicht in Brüssel kontrolliert die Einhaltung aller Sicherheitsauflagen. Sie hat im Februar 2015 in Tihange nicht nur größere, sondern auch mehr Risse festgestellt. Bisher ohne weitere Konsequenzen. Auf Nachfrage erklärt Pressesprecherin Nele Scheerlink: "Was Sie wissen müssen ist: Da sind immer Fehler im Stahl." Leichte Materialfehler seien bei der Stahlproduktion in einer solchen Größenordnung normal.

Was geschah im laufenden Betrieb?

Ilse Tweer ist Materialforscherin und sieht das ganz anders. Sie hat an einem Report über die belgischen Atomkraftwerke mitgearbeitet. Ihre Einschätzung: Die Risse in Tihange könnten auch erst im laufenden Betrieb entstanden sein und eben nicht bei der Herstellung: "Bei der Herstellungsprüfung sind sie nicht gefunden geworden, 2012 aber doch." Da sei es sehr erstaunlich, dass die belgische Behörde sage, die Defekte seien schon immer da gewesen. Wenn man nicht nachweisen könne, dass die Risse während des Betriebes nicht gewachsen sind, dann dürfe man den Reaktor nicht betreiben.

AKW soll im Juli wieder hochgefahren werden

Fakt sind mittlerweile über 3.000 gefundene Risse im Block 2 von Tihange. Der Kraftwerksbetreiber Electrabel liefert dafür diese Erklärung: Die Untersuchungsmethoden seien eben genauer. Weitere Analysen sollen folgen. Der Plan, das Kraftwerk schon im Juli wieder hochzufahren, steht erstmal noch. Schließlich geht es um viel Geld.

"Wir wollen, dass unsere Kraftwerke laufen"

"Wir sind ein Player in der Industrie und produzieren Elektrizität. Es ist normal, dass wir wollen, dass unsere Kraftwerke laufen", sagt Electrabel-Sprecherin Geetha Keyaert. Natürlich sei nukleare Sicherheit für das Unterehmen die erste Priorität. „Wenn die Atombehörde aber sagt, das Kraftwerk ist nicht sicher, dann werden wir es auch nicht wieder hochfahren."

Berlin beobachtet die belgischen AKW

Nicht nur die Atomkraftgegner in der Region Aachen fragen sich inzwischen, wie die Bundesregierung mit dem umgeht, was im AKW Tihange kurz hinter der Grenze immer wieder passiert.  Das zuständige Umweltministerium in Berlin beantwortet die Fragen des WDR schriftlich: Das Ministerium werde, wie bislang bereits geschehen, „die Untersuchungsergebnisse der belgischen Atomkraftwerke weiterverfolgen und die Übertragbarkeit auf deutsche Kernkraftwerke fortlaufend bewerten."

Baugleiche Behälter in Deutschland

Wozu es keine offiziellen Stellungnahmen gibt, sind belgische und deutsche Medienberichte zum Ausmaß der Gefahr: In deutschen Atomkraftwerken wie Brunsbüttel oder Philipsburg sollen Stahl-Druckbehälter vom selben Hersteller oder baugleiche Teile installiert sein wie in Tihange. Risse hat es dort wohl nicht gegeben. Und: Brunsbüttel ist längst still gelegt, Philippsburg wird es bis 2019 sein.