Interview mit Gewaltforscher

"Die Hemmschwelle sinkt"

Stand: 05.03.2015, 17:33 Uhr

Hass-Attacken auch auf öffentliche Personen nehmen zu. Jüngstes Opfer: Fußball-Kommentator Marcel Reif. Begünstigt die Anonymität des Internets die Bereitschaft, Menschen zu beleidigen und anzugreifen? Ein Interview mit dem Bielefelder Gewaltforscher Andreas Grau.

WDR: Fußball-Kommentator Marcel Reif wurde gerade zweimal von Fans attackiert, Spieler werden in sozialen Netzwerken übelst beleidigt: Warum eskalieren gerade im Fußball so schnell die Emotionen?

Andreas Grau: Als Fan einer Mannschaft ist das grundsätzlich eine hochemotionale Sache. Und teilweise wird das so hart gesehen: Wer nicht bedingungslos für uns ist, ist gegen uns und wird entsprechend behandelt. Das ist ein Stück weit der Mechanismus, der dahintersteckt.

WDR: Reif und andere Sportkommentatoren haben das Gefühl, dass Mobbing und persönliche Angriffe gerade durch die Anonymität des Internets befördert werden. Haben sie Recht?

Grau: In den sozialen Medien ist es natürlich so, dass ich mich hinter einem Pseudonym verstecken kann. Da überzieht man sich dann zuweilen gegenseitig mit Shitstorms und ähnlichem. Dass Personen des öffentlichen Lebens in sozialen Netzwerken verbal niedergemacht werden, ist ein Phänomen, das wir nicht nur im Fußball finden. Da muss man schon die Frage stellen, in was für einer Gesellschaft wollen wir leben, auch virtuell.

WDR: Kann man behaupten, dass es eine Art Gewalttransfer vom Internet ins echte Leben gibt? Also: Wer das Netz zu verbalen Hass-Attacken nutzt, verhält sich auch im echten Leben zunehmend rücksichtsloser.

Grau: Diesen Schluss würde ich so direkt nicht ziehen wollen. Einen solchen Zusammenhang kann es geben, muss es aber nicht. Nur weil jemand ein bestimmtes Gewaltvideo spielt, ist der ja auch nicht per se draußen gewalttätiger oder wird direkt zum Gewalttäter. Das wäre zu einfach. Was man aber schon sagen kann: Grundsätzlich sinkt die Hemmschwelle, andere zu beleidigen. Aber es ist noch ein großer Schritt von "sich ungebührlich äußern" zu "sich ungebührlich benehmen".

WDR: Brauchen wir eine ganz andere Form der Auseinandersetzung beziehungsweise eine neue Netzkultur?

Grau: Bei öffentlichen Diskussionen und Debatten gibt es in aller Regel einen Moderator. Eine Möglichkeit ist gewiss, Diskussionsforen zu moderieren. Allerdings ist das bei der Vielzahl an Diskussionsbeiträgen auch schwierig. Und davon unberührt sind natürlich sowieso soziale Netzwerke wie Facebook, wo die Leute völlig unabhängig Dinge äußern können, wie sie lustig sind.

WDR: Kann man bereits von einer zunehmenden Verrohung der Sitten sprechen?

Grau: Es ist schon eine Tendenz sichtbar - nicht nur im Fußball - dass die Schwelle, übergriffig zu werden, niedriger zu werden scheint.

Das Interview führte Frank Menke.