MONITOR Nr. 673 vom 26.02.2015

Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft

Aktueller Hinweis der Redaktion: Uns erreichen über Telefon, E-Mail und Facebook viele Reaktionen auf den Bericht über Jessica und Rosa, die beiden Frauen, denen das Jobcenter die Leistungen gestrichen haben, nachdem sie eine Ausbildung begonnen haben. Viele Zuschauer wollen den beiden helfen. Das freut uns, aber wir können die Kontaktdaten von Jessica und Rosa natürlich nicht veröffentlichen. Wer also helfen möchte, egal ob mit Rat oder Geld, der schreibe uns bitte eine E-Mail an monitor@wdr.de, Betreff: "Jobcenter". Wir melden uns zurück!

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Bericht: Achim Pollmeier, Dorothe Dörholt

Langzeitarbeitslose: Wer sich engagiert, wird bestraft

Monitor 26.02.2015 08:23 Min. Verfügbar bis 26.02.2099 Das Erste

Georg Restle: „Zunächst zu der Erfolgszahl des Tages - 3,02 Millionen. Das ist der niedrigste Arbeitslosenstand in einem Februar seit 1991. Klingt toll, was aber nicht erzählt wird, es ist eine verlogene Statistik. Kranke, Alte, Ein-Euro-Jobber, sie alle tauchen darin nämlich nicht auf. Insgesamt beziehen über 6 Millionen Menschen in Deutschland Sozialleistungen. Und viele von ihnen würden alles dafür tun, um aus dieser Armut herauszukommen. Aber wehe, sie engagieren sich zu viel oder kümmern sich sogar um einen Berufsabschluss. Dann nämlich droht ihnen alles genommen zu werden - Hartz IV machts möglich. Dorothe Dörholt und Achim Pollmeier haben zwei Frauen getroffen, die das gerade bitter erfahren müssen.“

Das ist die Geschichte von Jessica und Rosa. Zwei Frauen, die viel gemeinsam haben. Beide

sind alleinerziehend, beide waren jahrelang arbeitslos, in Hartz IV. Und beide machen jetzt ihre

erste Ausbildung. Masseurin, um danach Physiotherapeutin zu werden. Ein festes Ziel.

Jessica: „Ich komme nach acht bis neun Stunden nach Hause und fühle mich einfach viel besser, weil man wieder einen Sinn hat, und man freut sich ja auch auf was Neues. Man lernt jeden Tag hier etwas Neues und das will ich auch gar nicht mehr hergeben.“

Aber vielleicht müssen sie es hergeben. Denn die beiden haben noch etwas gemeinsam. Seit sie einen Beruf erlernen, statt zu Hause herumzusitzen, hat ihnen die ARGE, also das Jobcenter, die Leistungen gestrichen. Ohne Wenn und Aber.

Rosa: „Es kann nicht sein, dass ARGE zu mir sagt, wenn Sie zu Hause bleiben, dann werden Sie Leistungen von uns bekommen. Aber wenn Sie eine Ausbildung machen, nicht.“

Anfang 20 wurde Jessica schwanger, kümmerte sich erstmal um den Sohn. Jetzt ist sie 33 und steckt in der Sackgasse, allein erziehend, ohne Ausbildung, angewiesen auf Hartz IV. Mehr Armut geht in Deutschland nicht, denkt man. Geht aber doch. Seit das Jobcenter Jessicas Leistungen gestrichen hat, bekommt sie nur noch das Geld für ihren Sohn. Nicht mal 500 Euro. Das kann nicht für beide reichen.

Jessica: „Wenn jetzt keiner einlenkt, zum Beispiel die Jobbörse oder Jobcenter, dann müsste ich die Ausbildung aufhören. Damit mein Sohn und ich nicht auf der Straße landen.“

Solche Strafen bekommt eigentlich nur, wer etwas falsch gemacht hat. Jessicas Fehler war, dass sie durchstarten wollte, nicht mehr vom Staat leben. Sie nahm ihr Schicksal selbst in die Hand, begann eine Berufsausbildung, ohne Hilfe vom Jobcenter.

Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Das bestehende Hartz IV-Recht blockiert tatsächlich eine vernünftige Berufsausbildung für diejenigen, die überhaupt keinen Berufsabschluss haben. Ganz im Gegenteil, es zwingt die Akteure zum Beispiel in Jobcentern dazu, der Prämisse zu folgen, so schnell wie möglich in irgendeinen Job zu vermitteln, das ist der Hauptauftrag im Hartz IV-Gesetz.“

Immer nur Hartz IV, Ein-Euro-Jobs und Gelegenheitsarbeiten? Rosa will mehr, um sich und ihre vier Kinder alleine ernähren zu können. Und Rosa kann mehr. Sie spricht vier Sprachen, hat den Realschulabschluss nachgeholt und will jetzt Physiotherapeutin werden, ein Mangelberuf. Mehrere Stunden täglich büffelt sie dafür. Ihre Ausbildung an der Uniklinik ist kostenlos. Aber Rosa verdient auch nichts dabei. Es geht ihr nur um den Lebensunterhalt. Sie will nur das, was sie vom Jobcenter bekam, als sie zu Hause rumsitzen musste.

Rosa: „Das ist reine Schikane. Ich will meine Unabhängigkeit. Ich will ... ich will arbeiten gehen. Und meine Frage ist, ist Hartz IV da, um die Leute zu unterstützen oder die Leute noch tiefer zu versinken?“

Wie kann das sein? Es liegt schlicht am Gesetz. Rosa darf während der Ausbildung kein Hartz IV bekommen, weil sie formal nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Dass sie dort seit Jahren nicht vermittelt wurde, interessiert nicht. Es ist ein System, das jeden bestraft, der aus eigener Kraft da raus will. Ein Hartz IV-Empfänger bekommt ohne Wohnzuschuss 399,00 Euro im Monat, das absolute Existenzminimum. Macht er eine Ausbildung und braucht Unterstützung, bekommt er sogar 50,00 Euro weniger. Und wer über 30 ist oder andere Kriterien nicht erfüllt, der bekommt schlicht gar nichts. Da bleibt man besser in Hartz IV.

Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Über 50 Prozent der Hartz IV-Empfänger haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Und wenn die sich jetzt bewerben, dann haben die ganz miese Chancen, weil die deutschen Arbeitgeber extrem abschlussorientiert sind. Die gucken, hat jemand einen Berufsabschluss, irgendeinen Berufsabschluss. Haben Sie den nicht, sinken die Chancen auf einen neuen Job dramatisch.“

Theoretisch können auch die Jobcenter Berufsausbildungen fördern. Aber das bekommt nicht mal ein Prozent der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger. Auch Jessica und Rosa gingen leer aus. Statt dessen schickte sie das Jobcenter in kostspielige Fördermaßnahmen mit wohlklingenden Titeln wie „Jobbörse Alleinerziehende“, oder „Aktiv in die Zukunft“.

Jessica: „Man kommt da einmal die Woche hin, wird zu einem Gruppengespräch eingeladen, damit sich alle kennen lernen. Und dann hat man mit dem Sachbearbeiter ein Gespräch, wie man sich die Zukunft vorstellt, wie die Wohnsituation ist, wie man zurecht kommt. Aber dass jetzt man so wirklich in Arbeit reinkommt, eher weniger, das passiert nicht.“

Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Auf der einen Seite hat man allein seit 2011 die zur Verfügung stehenden Mittel für Fördermaßnahmen um über die Hälfte gekürzt. Und die Fördermaßnahmen, die man jetzt noch macht, sind oftmals von äußerst hanebüchener, ich will sogar sagen teilweise schwachsinniger Qualität.“

Und was tut die Bundesregierung? Ein Interview gibt uns Arbeitsministerin Andrea Nahles nicht. Schriftlich räumt das Ministerium auf Anfrage „Sicherungs- und Förderlücken“ ein, die man schließen wolle.

Zitat: „Das Bundesarbeitsministerium hält eine gesetzliche Änderung für erforderlich. Sie befindet sich derzeit in der Abstimmung innerhalb der Bundesregierung.“

Wann es soweit sein soll, weiß das Ministerium selbst nicht. Jessica kann darauf nicht warten. Abends geht sie putzen, um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten. 160,00 Euro bringt das im Monat. Was noch fehlt, hat sie sich bisher bei Freunden geliehen - für die Miete. Aber das geht jetzt auch nicht mehr.

Reporterin: „Wie lange können Sie das noch machen?“

Jessica: „Finanziell ... also Kraft hätte ich genug zum Kämpfen, aber finanziell vielleicht noch zwei Monate, und dann würde der Schuldenberg auch schon wachsen. Und dann geht’s nicht mehr weiter.“

Jessica wird die Ausbildung wohl abbrechen müssen. Zurück zum Jobcenter, zurück zu Hartz IV, vielleicht für den Rest ihres Lebens. Für Rosa sieht es noch schlechter aus. Weil sie die Miete nicht mehr zahlen kann, haben sie und die vier Kinder gerade eine Räumungsklage bekommen.

Rosa: „Ich bin in diesem ... diesem Kampf seit Juni. Ich kann nicht mehr.“

Reporterin: „Was ist insgesamt so Ihre größte Angst?“

Rosa: „Die Wohnung zu verlieren. Die Kinder zu verlieren. Meine Ausbildungsplatz zu verlieren. Eigentlich meine Zukunft ist im Spiel.“

Georg Restle: „Über zehn Jahre sind die Hartz IV-Gesetze jetzt alt. Schön, dass es dem Arbeitsministerium so langsam auffällt, dass es da gewisse Förderungslücken gibt.“

Stand: 24.02.2015, 14:07 Uhr

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1 Kommentar

  • 1 Larry kain 20.07.2019, 01:21 Uhr

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