Bürger in Angst, Polizei unter Druck – ist unser Staat zu schwach?

Der Faktencheck zur Sendung vom 01.02.2016

Nach den Übergriffen von Köln wächst die Angst der Bürger: Sind sexuelle Belästigung und Raub bald an der Tagesordnung? Wurde die Polizei kaputtgespart, müssen wir uns selber schützen? Oder ist das alles Hysterie, geschürt von rechten Scharfmachern?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen und Behauptungen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Wolfgang Bosbach über Wohungseinbrüche

Wolfgang Bosbach (CDU) sagt, in den letzten sechs bis sieben Jahren habe die Zahl der Wohnungseinbrüche deutlich zugenommen. Stimmt das?

Prof. Thomas Görgen kann das bestätigen. "Der Wiederanstieg der Zahl der Wohnungseinbrüche begann um 2007 und war seitdem recht kontinuierlich." In Deutschland würden mittlerweile jährliche Fallzahlen registriert, die um nahezu die Hälfte höher liegen als 2006 - und damit zugleich dem Niveau der späten 1990er Jahre entsprechen, so Görgen. Allerdings hätten die bundesweiten Fallzahlen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beim Wohnungseinbruch noch weit höher gelegen als heute. "Wir haben es also mit einem nun bereits etliche Jahre andauernden Wiederanstieg nach einer längeren Phase zurückgehender Kriminalität zu tun", sagt der Experte.

Auffällig sei die Entwicklung beim Wohnungseinbruch vor allem deshalb, weil sie etwas gegenläufig zur Kriminalitätsentwicklung insgesamt ist, so Görgen. Während die Zahl der Wohnungseinbrüche seit einigen Jahren steigt, sei Gesamtzahl der polizeilich registrierten Straftaten zwischen 2006 und 2013 von 6.30 Millionen auf 5.96 Millionen gesunken. Erst 2014 sei erstmals wieder ein Anstieg auf 6.08 Millionen registriert worden. Für den Anstieg bei Wohnungseinbrüchen gibt es laut Görgen eine Erklärung: "In diesem Bereich gibt es organisiert vorgehende Tätergruppen und es gibt Erkenntnisse, die den Anstieg der Zahl der Wohnungseinbrüche mit ihnen in Verbindung bringen." Allerdings seien dies bei weitem nicht die einzigen Täter. So würden Wohnungseinbrüche etwa auch von Drogenabhängigen oder von jungen Gelegenheitstätern begangen, so Görgen. Verlässliche Aussagen zu treffen sei aufgrund der geringen Aufklärungsquoten beim Wohnungseinbruch allerdings schwer, so der Experte.

"Das trifft zu", sagt auch Prof. Klaus Boers. Demnach hätten Wohnungseinbruchsdiebstähle laut polizeilicher Kriminalstatistik zwischen 2006 und 2014 von 129 auf knapp 190 Fälle pro 100.000 Einwohner zugenommen. Zuvor sei diese so genannte Kriminalitätshäufigkeitsziffer allerdings seit 1993 von 280 auf 129 in deutlich größerem Umfang zurückgegangen, so Boers. "Über die Gründe der neuerlichen Zunahme gibt es zahlreiche Einzelbeobachtungen und Vermutungen, zum Beispiel vermehrte Aktivitäten nicht-deutscher, international operierender Tätergruppen", sagt der Kriminologe. Auch er gibt zu bedenken, dass aufgrund der geringen Aufklärungsrate beim Wohnungseinbruch von ca. 15 Prozent anhand der polizeilichen Kriminalstatistik keine genauen Aussagen über die Täter gemacht werden können. "Auch sonst wurden – noch - keine systematischen Untersuchungen zum neuerlichen Anstieg beim Wohnungseinbruch veröffentlicht", sagt Boers.

Ingo Lindemann über Strafrahmen und Gesetzesverschärfungen

Ingo Lindemann hält Gesetzesverschärfungen für unnötig, um verstärkt gegen Kriminalität vorzugehen. Der vorhandene Strafrahmen sei vollkommen ausreichend. Das Gesetz müsse lediglich auch angewendet werden. Wird der Strafrahmen in Deutschland nicht genügend ausgeschöpft?

"Strafandrohungen sind allenfalls sehr begrenzt ein geeignetes Mittel, um Kriminalität zu reduzieren", sagt auch Thomas Görgen. Abschreckender auf die Straftäter wirke  die hohe Wahrscheinlichkeit entdeckt, verfolgt und mit Sanktionen belegt zu werden, nicht aber die Ausschöpfung des Strafrahmens, so Görgen. Der obere Strafrahmen benennt demnach die maximale Strafe für den denkbar schwersten Fall in einem Kriminalitätsbereich, sagt der Kriminologe. "Er ist diesen schwersten Fällen vorbehalten und kann keinesfalls zu einem allgemeinen Maßstab gemacht werden", stellt Görgen klar.

Nach Ansicht von Klaus Boers hat Ingo Lindemann ein Anwendungsdefizit nicht auf die mangelnde Ausschöpfung der Strafrahmen, sondern auf ein Verfolgungsdefizit bezogen. "Ein Verfolgungsdefizit würde bedeuten, dass in Deutschland die Polizei und die Staatsanwaltschaften bei zu vielen Straftaten nicht genügend ermitteln und anklagen. Dies wird an der Polizeiarbeit in der Silvesternacht in Köln zu Recht kritisiert. Ein Bestrafungsdefizit würde bedeuten, dass die Strafgerichte insgesamt zu geringe Strafen verhängen", erklärt Boers. Als Indiz für die Effizienz der sowohl polizeilichen als auch justiziellen Strafverfolgung könne man die Kriminalitätsentwicklung betrachten, so der Experte. Er stellt klar: "Danach besteht insgesamt weder ein Verfolgungs- und noch ein Bestrafungsdefizit. Denn spätestens seit Mitte der 2000er Jahre sind im gesamten Bundesgebiet insbesondere auch die Gewaltdelikte deutlich zurückgegangen." Der Kriminologe gibt allerdings zu bedenken, dass die jährliche Kriminalitätsentwicklung in Deutschland nur anhand der polizeilich registrierten Straftaten eingeschätzt werden kann. Die polizeilichen Kriminalstatistiken berücksichtigen demnach nicht das Dunkelfeld der Kriminalität, also die Straftaten die insbesondere von den Opfern nicht angezeigt oder von der Polizei nicht wahrgenommen werden, so Boers. "In Deutschland werden Dunkelfeldbefragungen leider nicht regelmäßig durchgeführt. Die Ergebnisse der unregelmäßig erhobenen Dunkelfelddaten deuten allerdings ebenfalls auf einen - sogar schon früher beobachteten - Rückgang der Gewaltkriminalität hin", sagt der Kriminologe.

Rüdiger Thust über Kriminalität in NRW

Rüdiger Thust teilt die Sorgen der Bevölkerung vor Kriminalität. Alleine in NRW seien 1,5 Millionen Straftaten registriert worden. Darunter über 50.000 Wohungseinbrüche und Taschendiebstähle sowie über 100.000 Einbrüche in Autos.

Die Zahlen stimmen. Die Kriminalstatistik des Landes NRW erfasste im Jahr 2014 insgesamt 1,5 Millionen Straftaten. Im Vergleich zum Vorjahr war dies ein leichter Anstieg von 1,1 Prozent. Die Polizei registrierte 52.794 Wohnungseinbrüche – fast vier Prozent weniger als im Jahr 2013. Bei Diebstählen aus Autos blieb die Zahl mit 101.415 im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert. Deutlich gestiegen sind dagegen die Taschendiebstähle: 2014 wurden in NRW 53.759 gezählt. Das sind 8,4 Prozent mehr als 2013. Auffallend bei diesen Delikten sind die niedrigen Aufklärungsquoten. Bezogen auf alle Straftaten wurde 2014 die Hälfte der Fälle aufgeklärt. Die Ermittlungen zu Wohnungseinbrüchen führten allerdings nur in 15,4 Prozent der Fälle zum Erfolg. Bei Taschendiebstählen liegt die Quote sogar nur bei 5,9 Prozent.

Ingo Lindemann über "Alltagskriminalität"

Ingo Lindemann sagt, der Anstieg der Kriminalität sei vor allem in den Bereichen der "Alltagskriminalität" wie Taschendiebstähle oder aufgebrochene Autos festzumachen. Stimmt das?

"Insgesamt haben wir in Deutschland, wenn wir uns den Zeitraum etwa der letzten zehn Jahre anschauen, tendenziell eine positive Entwicklung", sagt Thomas Görgen. Richtig sei, dass es zugleich Probleme bei Wohnungseinbrüchen und Taschendiebstählen gebe. Hier seien die Fallzahlen in jüngster Zeit in beträchtlichem Maße gestiegen, sagt der Experte. So hätten beispielsweise - ähnlich wie in NRW - Taschendiebstähle auch bundesweit in den letzten Jahren stark zugenommen. "In den Jahren 2007-2009 registrierte die Polizei jährlich bundesweit etwas mehr als 90.000 Fälle, im Jahr 2014 hingegen rund 157.000 Taten." Rückläufig sei dagegen der schwere Diebstahl an und aus Kraftfahrzeugen, sagt Görgen. So seien Ende der 1990er Jahre noch jährlich rund eine halbe Million Fälle polizeilich registriert worden. Im Jahr 2014 waren es nur noch rund 190.000.

Für den Taschendiebstahl treffe dies zu, sagt Klaus Boers, nicht jedoch für "aufgebrochene Autos". "Der Taschendiebstahl hat sich seit 1993 (124 Fälle pro 100.000 Einwohner) meist auf und ab entwickelt", sagt der Experte. Zwischen 2006 und 2014 hätten die Fälle jedoch von 112 auf rund 190 Fälle deutlich zugenommen, so Boers. Dagegen sei der "Diebstahl an und aus Kraftfahrzeugen" zwischen 1993 und 2014 von über 1.000 Fällen pro 100.000 Einwohner auf rund 400 Fälle deutlich zurückgegangen, sagt der Kriminologe. Noch deutlicher habe der Autodiebstahl abgenommen. Zwischen 1993 und 2014 sei er auf ein Fünftel zurück gegangen - von 265 Fällen pro 100.000 Einwohner auf 45, so Boers.

Wolfgang Bosbach über eine Zuschrift eines Kriminalbeamten

Am Ende hat Wolfgang Bosbach dann doch noch erzählt, was ihm ein langjähriger Kriminalbeamter geschrieben hatte.

Die anonymisierte Email hat Wolfgang Bosbach auf seiner Homepage veröffentlicht. Wo dem Beamten der Schuh drückt und was er kritisiert können Sie hier nachlesen:

Stand: 02.02.2016, 12:52 Uhr