Der Faktencheck zur Sendung vom 25.01.2016

Angezählt - wie viel Zeit bleibt Merkel noch?

Die Union tief zerstritten, die letzten Verbündeten in Europa wenden sich ab. Wie lange hält die Kanzlerin noch ihre Flüchtlingspolitik durch? Wann gibt es auch bei uns eine Obergrenze? Und was treibt Merkel an – Idealismus oder doch das Kalkül der Macht?  

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen und Behauptungen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Thomas Kreuzer über Familiennachzug

Thomas Kreuzer (CSU) sagt, wenn 500.000 Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland bleiben, müsse mit einem Familiennachzug von bis zu zwei Millionen Menschen gerechnet werden. Sein CSU-Kollege Michael Frieser sprach im November gar von bis zu vier Millionen. Kommen wirklich so viele nach?

Die Rechnung, dass drei bis vier Familienmitglieder pro Flüchtling nach Deutschland nachziehen, gilt unter Experten als höchst spekulativ. Der Flüchtlingsforscher Dr. Bernd Parusel sagt, dass die Zuwanderung aus familiären Gründen in Folge eines Anstiegs der anerkannten Flüchtlinge zwar mehr Dynamik erhält. Allerdings könne die Annahme, dass Asylbewerber zum großen Teil aus Großfamilien stammen, weder belegt noch widerlegt werden. "Dabei handele es sich also um eine pure Annahme", sagt Parusel in einem Beitrag für das "Netzwerk Flüchtlingsforschung". So sei die Zahl der Personen, deren Asylantrag positiv entschieden wurde, in Deutschland von 7.870 im Jahr 2008 auf 40.560 im Jahr 2014 gestiegen. Im gleichen Zeitraum sei die Zahl der nachgezogenen Familienangehörigen dagegen nur von rund 29.000 auf etwa 47.500 gestiegen. Parusel: "Der Anstieg des Familiennachzugs war also deutlich geringer als der Anstieg der Schutzgewährung, und eine Korrelation ist nicht festzustellen."

Auch Dr. Thomas Liebig, Migrationsforscher bei der OECD, hält solche Szenarien für unseriös. Gegenüber dem Magazin "Der Spiegel" räumte der Experte zwar ein, dass Familienmitglieder nachkommen werden. Man dürfe die anerkannten Asylbewerber allerdings nicht einfach mit einer beliebigen Zahl möglicher Familienmitglieder multiplizieren. Liebig: "Wer das tut, schürt Panik." Es gebe keine belastbaren Zahlen, wer überhaupt eine Familie hat und wie groß diese ist, so Liebig. Der Familienstatus von Flüchtlingen werde bei der Erstregistrierung in der Regel nicht vermerkt. Selbst wenn jeder Flüchtling eine Familie zurückgelassen hätte und diese nachziehen würde, wäre die Schätzung von "vier bis acht" Angehörigen immer noch zu hoch angesetzt, betont der Experte.

Christian Lindner über Flüchtlingspolitik und Rechtspopulisten

Christian Linder (FDP) wirft der Bundesregierung vor, in der Flüchtlingspolitik nicht an einem Strang zu ziehen. So verlören die Menschen das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Er sagt, Schuldzuweisungen und Blockaden stärken die Rechtspopulisten. Spielt die Politik der Bundesregierung den Rechtspopulisten in die Karten?

“Hier kann man Lindner zustimmen“, sagt Prof. Heinrich Oberreuter. "Die Bevölkerung hat offensichtlich kein Verständnis mehr für die Behandlung dieses Themas vor dem Hintergrund personalpolitischer, innerparteilicher und wahltaktisch motivierter Kommunikationsstrategien und Machtspiele." Jetzt seien Problemlösungen zumindest im Sinne einer erkennbaren, praktikablen und zustimmungsfähigen Strategie gefragt. Der Politikwissenschaftler stellt klar: "Entsprechende Defizite befördern jene, die einfache Lösungen anzubieten haben - siehe den Aufstieg des Rechtspopulismus - auch hierzulande."

Melanie Amann über die SPD in der Flüchtlingsdebatte

Die Journalistin Melanie Amann kann in der Flüchtlingspolitik der SPD keine klare Linie erkennen. Das Blockieren des Asylpakets II und widersprüchliche Auftritte von Sigmar Gabriel seien keine Hilfe für die Bundeskanzlerin. Welche Rolle spielt die SPD derzeit in der Flüchtlingskrise?

Heinrich Oberreuter hält die Rolle der SPD für zwiespältig. "Sie schwankt zwischen der - übrigens von allen geteilten - humanitären Verantwortung und der Praktikabilität, zu der auch die öffentliche Resonanz zu zählen ist", sagt der Politikwissenschaftler. Seiner Ansicht nach gibt es einerseits sowohl in den Führungsetagen als auch im "linken" Segment der Parteibasis Unterstützung für die Kanzlerin. Daneben gebe es jedoch aus Praktikabilitätsgründen auch Vorbehalte - insbesondere bei Amtsträgern wie etwa Ministerpräsidenten -, die Verantwortung im praktisch-administrativen Vollzug vor Ort besitzen, sagt Oberreuter. Und schließlich sei da noch die gesellschaftlich traditionell-konservativ breite Parteibasis, die die bekannten Vorbehalte in der Flüchtlingspolitik teilt - bis hin zur Bereitschaft, Demonstrationen zu veranstalten. Nach Ansicht von Oberreuter erschwert all dies die Position von Parteichef Gabriel: "Dass Gabriel zu changieren scheint, ist der Herausforderung durch diese innerparteiliche Differenzierung zuzuschreiben." Ebenso wie die Bundeskanzlerin sei auch die SPD auf der Suche nach einem Ausweg, so der Experte. "Wenn zwei in ihren Gefilden unsicher suchend unterwegs sind, können sie zumindest zunächst einmal füreinander wenig hilfreich sein."

Christian Lindner über Flüchtlingspolitik und europäisches Recht

Christian Linder ist sicher, dass Deutschland in der Flüchtlingspolitik eine Wende braucht. Er sagt, Angela Merkel habe den Eindruck einer grenzenlosen Aufnahmebereitschaft erweckt und darüber hinaus europäisches Recht außer Kraft gesetzt. Hat er Recht?

"Auch hier hat Lindner Recht", stimmt Heinrich Oberreuter zu. "Dass Merkel sie 'eingeladen' hat, sagen Flüchtlinge auch selbst." Das Verhalten der Kanzlerin sei so verstanden und in Sekundenschnelle übers Netz global verbreitet worden. Tatsächlich seien auch Fakten geschaffen worden, die europäisches Recht außer Kraft gesetzt haben, so der Politikwissenschaftler. Als Beispiel nennt er die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms ( 2001/55/EG) und das Dublin III-Abkommen. Und nicht nur europäisches Recht ist nach Ansicht von Oberreuter verletzt worden: "Nach Auffassung mehrerer maßgeblicher Staatsrechtler sind auch innerstaatliche Rechtsvorschriften – insbesondere Paragraf 18, Abs. 2 des Asylgesetzes - nicht beachtet worden." Laut Oberreuter sind sowohl der europäische als auch der nationale Rechtsrahmen beschädigt.

Thomas Kreuzer über bestehende Gesetze

Thomas Kreuzer sagt, es brauche keine Gesetzesänderung, um Flüchtlinge aus sicheren Drittländern abzuweisen.

Das stimmt. Das Asylgesetz regelt bereits heute in Paragraf 18, dass Asylsuchenden die Einreise zu verweigern ist, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kommen. In Deutschland gelten unter anderem Albanien, Kosovo, Senegal, Serbien und Ghana als sichere Herkunftsstaaten. Darüber hinaus regelt das Asylgesetz auch, dass Asylsuchende nicht einreisen dürfen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bereits ein anderer Staat im Rahmen von Rechtsvorschriften der EU (z. Bsp. “Dublin III“) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nicht wenige in Europa sehen in diesem Dublin III-Abkommen heute allerdings nur noch einen Papiertiger. So sagte etwa die österreichische Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Ulrike Lunacek, gegenüber dem RBB schon im September letzten Jahres: "Dublin III ist tot."

Stand: 26.01.2016, 07:23 Uhr