Halbmond über Deutschland – wie viel Erdogan verträgt unser Land?

Der Faktencheck zur Sendung vom 15.08.2016

Der radikale Kurs Erdogans rüttelt bei uns Bürger und Politiker auf: Wie stark ist der türkische Einfluss auf hiesige Moscheen, auf die Herzen der Deutsch-Türken? Ist der Doppelpass ein Irrweg? Oder verhindert am Ende unser Misstrauen die Integration?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Mustafa Yeneroglu über deutsche Politiker nach dem Münchener Amoklauf

Mustafa Yeneroglu beklagt, dass sich in der ersten Woche nach dem Amoklauf von München kein deutscher Politiker bei den Angehörigen der türkischen Opfer gemeldet habe.

Das stimmt so nicht. Wie uns ein Sprecher der Stadt München erklärte, hat die Stadt drei Tage nach dem Amoklauf Kondolenzschreiben verschickt, in denen der Oberbürgermeister Unterstützung zugesichert und ein persönliches Gespräch angeboten hat. Nur einen Tag später kam es zu einem Treffen zwischen Oberbürgermeister, Polizeipräsident und Opferfamilien, darunter auch zwei der drei betroffenen türkischenstämmigen Familien. Eine weitere tükischstämmige Familie konnte nicht teilnehmen, weil sie bereits in die Türkei abgereist war, um dort ihr Kind bestatten zu lassen.

Schon einen Tag nach dem Amoklauf legte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer einen Kranz am Anschlagsort nieder. Am 31. Juli gedachten zahlreiche Spitzenpolitiker, darunter Bundespräsident Gauck, Bundeskanzlerin Merkel und der bayerische Ministerpräsident Seehofer, bei einem Trauergottesdienst der Opfer. Zwei Tage nach dem Amoklauf hatte auch die Vorsitzende des Migrationsbeirates der Stadt München, Nükhat Kivran, den Opferfamilien einen Besuch abgestattet. Dabei schilderten ihr die Angehörigen durchaus ihre Enttäuschung darüber, dass sie von Seiten der Stadt und der Polizei zu spät informiert wurden. In einer Pressemitteilung am Montag beklagte Kivran  "mehr Sensibilität" gegenüber den Angehörigen. Das Treffen zwischen Oberbürgermeister, Polizeipräsident und Angehörigen geht auf ihre Initiative zurück.

Die zögerliche Kontaktaufnahme führt Nükhat Kivran auf kulturelle Unterschiede zurück. In der Türkei sei es üblich, dass sich hochrangige Mitarbeiter nach solch einem Ereignis schnell melden. In Deutschland gebe es eine größere Zurückhaltung – oft seien Politiker nicht sicher, ob ein direkter Kontakt erwünscht sei.

Christoph Schwennicke über den Putschversuch als Chance für Erdogan

Der Journalist Christoph Schwennicke vermutet, dass Erdogan den Putschversuch als Gelegenheit nutzt, nun seine Politik in einem "Durchmarsch" umzusetzen. Damit schade er der pluralen Demokratie in der Türkei. Kam der Putschversuch für Erdogan tatsächlich wie gerufen?

Dr. Yasar Aydin, Sozialwissenschaftler an der Hafencity Uni Hamburg, teilt diese Auffassung nicht. Zwar gebe es Anzeichen in diese Richtung, sagt Aydin, der Putschversuch habe die Türkei jedoch militärisch und sicherheitspolitisch geschwächt und somit auch der Macht und dem Charisma von Erdogan geschadet. “Erdogan musste auf die Opposition zugehen, weil er auf neue Allianzen angewiesen ist – sowohl im säkularen als auch religiösen Lager“, sagt Aydin. Seiner Ansicht nach war die Situation aus Erdogans Sicht vor dem Putschversuch viel günstiger. “Insofern kam der Putschversuch nicht wie gerufen, sondern hat innen- und außenpolitische Konstellationen entstehen lassen, die Erdogans Macht einschränken werden“, ist sich Aydin sicher.

"Der gescheiterte Putschversuch hat Erdoğans bereits starke Machtbasis ohne Zweifel weiter gestärkt“ sagt dagegen die Türkei-Expertin der Gesellschaft für Auswärtige Politik Laura Kabis-Kechrid: “Er sprach selbst von einem ’Geschenk Gottes’; eine Aussage, die er bis heute nicht revidiert hat.“ Gleichzeitig habe der Putschversuch die ansonsten stark polarisierte türkische Gesellschaft über Parteigrenzen hinweg in ihrer Opposition zu den Putschisten geeint, so Kabis-Kechrid. Sie erinnert daran, dass alle Oppositionsparteien, inklusive der pro-kurdischen HDP, den Putschversuch klar verurteilt haben. Nach Ansicht der Expertin hätte Erdogans AKP dies für eine erneute Annäherung mit der Opposition - besonders mit der HDP - nutzen können. Das sei jedoch versäumt worden. “Stattdessen nutzt Erdoğan den Putschversuch, um sich im Namen der Verteidigung des Staates und der Demokratie aller ihm unliebsamen Personen zu entledigen."

Der aktuell geltende dreimonatige Ausnahmezustand ermögliche es Erdoğan als Staatspräsident per Dekret zu regieren, sagt die Türkei-Kennerin. Ihrer Ansicht könne dies als Probelauf für das von Erdoğan seit längerem angestrebte Präsidialsystem verstanden werden. “Die AKP-Regierung hat in kurzer Zeit mehrere aufeinander folgende Beschlüsse gefasst, die auf Grund des geltenden Ausnahmezustands nun als Gesetze gelten, ohne, dass diese vom Parlament verabschiedet werden müssen. Dadurch konnte die AKP innerhalb eines Monats sehr große Schritte zum Aufbau eines neuen Regierungssystems machen, insbesondere mit Blick auf das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem“, so Kabis-Kechrid. Sie befürchtet, dass der Ausnahmezustand dazu genutzt werden wird, Verfassungsänderungen durchzusetzen. Ministerpräsident Binali Yıldırım habe bereits betont, dass es für Verfassungsänderungen Schnittpunkte zwischen der regierenden AKP mit der MHP und der CHP gebe, sagt Kabis-Kechrid. “Sollte dies nicht bis zum Ende des dreimonatigen Ausnahmezustands gelingen, könnte Erdoğan durch die Verlängerung des Ausnahmezustands weiter per Dekret regieren, bis die Verfassungsänderung durchgesetzt wird“, befürchtet die Expertin.

Malu Dreyer über die Aufarbeitung des Putschversuchs

Malu Dreyer erwartet, dass der Putschversuch in der Türkei mit rechtsstaatlichen Mitteln aufgearbeitet wird. Vor dem Hintergrund von zehntausenden Verhaftungen und Suspendierungen zweifelt sie allerdings daran. Sind ihre Zweifel berechtigt?

"Die Zweifel sind berechtigt", sagt auch Yasar Aydin. Selbst in Regierungskreisen gebe es Stimmen, die diese Zweifel äußern, so der Experte. Bei der Aufarbeitung des Putschversuches falle der Opposition nun eine wichtige Rolle zu: "Wenn sie geschickt agiert, kann sie die Regierung dazu zwingen, innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens zu bleiben", sagt Aydin.

Auch Laura Kabis-Kechrid hält die Zweifel für begründet. “Betrachtet man die anhaltende Verhaftungswelle, wird sehr schnell deutlich, dass hier nicht nur gegen jene vorgegangen wird, die unmittelbar an dem Putschversuch beteiligt waren. Nach Angaben des türkischen Innenministers Efkan Ala wurden bislang fast 17.000 Menschen festgenommen, mehr als 5.000 Personen befinden sich weiterhin in Gewahrsam und ca. 76.100 Menschen wurden suspendiert. Bereits binnen weniger Stunden nach dem Putschversuch wurden fast 3000 Richter und Staatsanwälte entweder entlassen oder verhaftet.“ Dieses extrem schnelle und gezielte Vorgehen deutet nach Ansicht von Kabis-Kechrid darauf hin, dass es bereits vorbereitete Listen mit für Erdoğan unliebsamen Personen gab. Der Putschversuch biete nun die Gelegenheit, sich dieser Leute zu entledigen. Waren von der ’Säuberung’, wie Erdogan das Vorgehen der Regierung selbst bezeichnet, zunächst vor allem Richter, Staatsanwälte, Polizei- und Militärangehörige sowie Akademiker und Journalisten betroffen, stünden nun auch Geschäftsleute und Unternehmer im Fokus, denen eine Nähe zur Gülen Bewegung unterstellt wird, sagt Kabis-Kechrid. Hinzu komme die von der Regierung verkündete teilweise Außerkraftsetzung der europäischen Menschenrechtskonventionen. “Die Sorge um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei wächst in Europa daher nicht ohne Grund“, so die Einschätzung der Expertin.

Jens Spahn über Yeneroglus' Sicht der deutschen Medien

Jens Spahn wirft Mustafa Yeneroglu vor, er habe die deutschen Medien als zentral gesteuert bezeichnet.

Für eine solche Aussage von Mustafa Yeneroglu konnten wir keinen Beleg finden, auch nicht in Interviews mit der Deutschen Welle. Unbestritten aber ist, dass Yeneroglu der deutschen Presse eine einseitige Berichterstattung über den Putschversuch in der Türkei vorwirft. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu ging in seiner Medienkritik weiter. In einem TV-Interview mit dem Sender TGRT warf er den deutschen Medien vor, fremdgesteuert gegen den türkischen Staatspräsidenten Erdogan Stimmung zu machen. Sie würden vollständig von einem Kontrollmechanismus geleitet, so der Vorwurf. Eine Erklärung wie und von wem diese vermeintliche Kontrolle ausgeübt wird, blieb der türkische Außenminister allerdings schuldig.

Christoph Schwennicke über Erdogan und die Rolle der Religion

Christoph Schwennicke sagt, seit Erdogan an der Macht ist, sei die Trennung von Staat und Kirche in der Türkei nicht weiter entwickelt worden. Vielmehr habe Erdogan die Religion wieder zur Staatsräson erhoben. Stimmt seine Einschätzung?

Nach Ansicht von Yasar Aydin ist die Religion bereits vor der Amtsübernahme von Erdogan zur Staatsräson erhoben worden: Als Beispiel nennt der Türkei-Experte die Maßnahmen, die Generäle im Februar 1997 gegen die islamistisch-konservative Regierung unter der Führung von Necmettin Erbakan eingeleitet hatten. "Um Zuspruch in der Bevölkerung für ihre sicherheitspolitischen Maßnahmen gegen religiöse Kreise und Gruppierungen zu mobilisieren, haben die massiv in die Politik intervenierenden Generäle Fethullah Gülen -Prediger und Anführer der Gülen-Bewegung - salonfähig gemacht." Diese Politik sei von der AKP-Regierung fortgesetzt worden, so Aydin. Es folgte eine weitere Entsäkularisierung unter Erdogans Führung, so der Experte. "Der Islam wurde als moralische Ressource aufgewertet, religiöse Symbole wurden in die Öffentlichkeit zugelassen und religiöse Rhetorik wurde im politischen Diskurs bestimmend."

“Zunächst einmal muss man feststellen, dass es in der Türkei nie eine wirkliche Trennung von Staat und Kirche gab, die vergleichbar mit der Situation in Deutschland wäre“, stellt Laura Kabis-Kechrid klar. “Die türkische Republik wurde auf dem Prinzip des Laizismus gegründet. Dies bedeutete in der Türkei die Unterordnung der Religion gegenüber dem Staat, nicht aber die Trennung von Religion und Staat.“ Religiöse Institutionen seien in den Staatsapparat integriert worden, wodurch der Staat ein Monopol auf die Auslegung und Ausübung von Religion im öffentlichen und politischen Raum besaß, erklärt die Expertin. “Besonders in den anfänglichen Jahren der Republik machte der Staat starken Gebrauch von diesem Monopol, um seine nationalistische Version des Islams zu stärken und zu verbreiten und gleichzeitig durch strenge Kontrolle die Säkularisierung der Gesellschaft voran zu treiben.“ Dennoch sei es richtig, dass Religiosität unter der AKP-Regierung eine wesentlich prominentere Rolle im öffentlichen Leben und politischen Diskurs eingenommen habe, sagt Kabis-Kechrid. So seien unter anderem viele staatliche Schulen in so genannte Imam Hatip Schulen (religiöse Schule) umgewandelt worden. Nicht zuletzt sei auch das Budget des Präsidiums für Religionsangelegenheiten unter der AKP-Regierung kontinuierlich angehoben worden.

Stand: 16.08.2016, 13:25 Uhr