Wohin mit den Flüchtlingen – lässt Europa uns im Stich?

Der Faktencheck zur Sendung vom 15.02.2016

Angela Merkel will die Verteilung von Flüchtlingen in Europa – aber Europa will das offenbar nicht. Was, wenn der EU-Gipfel diese Woche scheitert? Der Schlagabtausch bei "hart aber fair": Was sagen Ungarn, Österreicher und Griechen?

Eine Talkshow ist turbulent. Auch in 75 Minuten bleibt oft keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen und Behauptungen von Experten bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Rolf-Dieter Krause über die Verteilung von Flüchtlingen

Nach Ansicht des Leiters des ARD-Studios in Brüssel, Rolf-Dieter Krause, geben alle Länder bei der von der EU beschlossenen Verteilung von 160.000 Flüchtlingen ein blamables Bild ab. Von diesen 160.000 Flüchtlingen seien bis heute gerade einmal rund 500 innerhalb der EU verteilt worden. Hat er Recht?

"Die Zahl ist meines Wissens korrekt", sagt auch Dr. Bernd Parusel von der schwedischen Migrationsbehörde. Das Programm, mit dem bis Herbst 2017 rund 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere Mitgliedstaaten umverteilt werden sollen, sei schleppend angelaufen und bleibe bislang hinter den Erwartungen zurück, so der Flüchtlingsforscher. Das Programm ist noch neu, sagt Parusel, daher gebe es bislang noch keine Forschung dazu. Allerdings werde über zahlreiche Hindernisse berichtet. "Für die in Italien und Griechenland ankommenden Flüchtlinge ist die Teilnahme am Programm freiwillig. Sie bekommen gesagt, dass Ihnen eine sichere und legale Einreise in ein EU-Land ermöglicht wird, in dem dann ein Asylverfahren durchgeführt wird", erklärt der Experte. Wo dies jedoch sein wird, dürfen sie sich nicht aussuchen. Da aber viele Flüchtlunge eine Vorstellung davon haben, wo sie hin möchten, etwa weil sie Freunde oder Verwandte dort haben, wollen sie nicht in ein Land umverteilt werden, das sie nicht kennen, so Parusel. Daher zögen es viele vor, auf eigenes Risiko nach Mittel-, West- oder Nordeuropa weiterzureisen, sagt der Experte.

Ein weiteres Problem stellen die noch nicht fertig gestellten "Hot Spots" dar, in denen Flüchtlinge registriert und umverteilt werden sollen, so Parusel. Nicht zuletzt hätten einige EU-Mitgliedstaaten noch keine Aufnahmeplätze zur Verfügung gestellt. Zwar sei dies von anderen Ländern nach anfänglicher Skepsis nachgeholt worden, allerdings stellen sie jedoch fest, dass offenbar keiner kommt, sagt Parusel. Sein Urteil zum Umverteilungsprogramm: "Es handelt sich um einen gut gemeinten Plan, der sich bislang leider als bürokratische Kopfgeburt erweist. Aber bessere Alternativen scheint die EU im Moment nicht zu haben."

"Ja, er hat Recht", sagt auch Dr. Claudia Engelmann vom Deutschen Institut für Menschrechte. Schon im September 2015 hätten die Regierungen der EU-Länder beschlossen, 160.000 Geflüchtete von Griechenland und Italien auf andere EU-Länder umzuverteilen. "Bisher sind 500 Flüchtlinge tatsächlich umverteilt worden, unter anderem nach Finnland, Luxemburg und Schweden." Die meisten EU-Länder hätten noch niemanden aus dieser Vereinbarung aufgenommen, so die Expertin. Auch sie sieht mehrere Gründe hierfür, hält den fehlenden politischen Willen aber für die Hauptsursache: "Einige Länder in der EU glauben immer noch, dass sie den Zustrom der Flüchtlinge alleine lösen können – durch Grenzen dichtmachen oder menschenrechtlich fragwürdige Beschränkungen des Asylrechts (z.B. Obergrenzen festsetzen). Tatsächlich kann es nur eine europäische Lösung geben. Die vereinbarte Quote vom September 2015 ist ein erster Schritt", sagt Engelmann. Die Regierungen der EU-Länder seien sich einig, dass Dublin gescheitert ist, so die Migrationsexpertin. Deshalb werde es mittelfristig ein neues, verbindliches Verteilsystem geben, welches momentan ausgehandelt wird. Für Engelmann ist aber klar: "Es kann nur ein kleiner Teil der Lösung sein – genauso müssen die Regierungen der EU-Länder einige Mitgliedsstaaten unmittelbar entlasten, die Asylstrukturen in allen Mitgliedsländern verbessern, Fluchtursachen bekämpfen und legale Wege der Migration nach Europa schaffen."

Johanna Mikl-Leitner über Flüchtlinge in Griechenland

Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner spricht sich dafür aus, zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen zu differenzieren. Sie sagt, nur 50 Prozent der Menschen, die in Griechenland ankommen, seien Syrer. Ein großer Teil aber eben auch Wirtschaftsflüchtlinge. Hat sie Recht?

"Die von Frau Mikl-Leitner genannte Zahl ist wahrscheinlich eine Schätzung. Da sie nicht sagt, auf welchen Zeitraum sie sich bezieht, kann sie mit wissenschaftlichen Methoden weder verifiziert noch widerlegt werden", sagt Bernd Parusel. Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex waren im Januar 2016 rund 45 Prozent aller in Griechenland ankommenden Migranten Syrer. Das heißt laut Parusel jedoch nicht, dass alle anderen keine Schutzansprüche haben. "Neben Syrern kamen die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak. Dies sind wirtlich keine sicheren Staaten, aus denen nur Wirtschaftsflüchtlinge kommen", sagt Parusel und erinnert daran, dass Deutschland im Januar 47 Prozent aller Asylantragsteller aus Afghanistan und 88 Prozent aller Iraker anerkannt hat.

Außerdem stellt der Migrationsexperte klar, dass schon lange zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen differenziert wird. "In Asylverfahren wird geprüft, ob ein Antragsteller Anspruch auf Asyl, Flüchtlingsstatus oder auf sogenannten subsidiären Schutz hat. Diejenigen, die keinen solchen Anspruch haben, weil sie ihr Herkunftsland zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben, werden abgelehnt." Parusel gibt aber zu Bedenken, dass eine gründliche und rechtssichere Prüfung etwaiger Schutzansprüche nur im Rahmen eines Asylverfahrens geschehen kann und nicht schon unmittelbar nach einer irregulären Einreise nach Griechenland oder anderswo. Schließlich sehe man es den Menschen, die in Griechenland ankommen, nicht an, ob sie im Sinne des Asylrechts schutzbedürftig sind oder nicht, so Parusel.

"Nein, sie hat nicht Recht", widerspricht Claudia Engelmann. "Bis vor kurzem wurden die meisten Flüchtlinge, die in Griechenland ankamen, nicht oder nur unzureichend registriert. Das heißt, man kann keine verlässlichen Aussagen über die Herkunftsländer dieser Menschen machen." Schätzungen gingen davon aus, dass im letzten Jahr zwischen 50 und 70 Prozent der in Griechenland ankommenden Menschen aus Syrien stammen, so die Expertin. Richtig sei jedoch, dass zwischen Menschen, die Anspruch auf Schutz haben und solchen, die keinen Anspruch auf Schutz haben, unterschieden werden muss. Auch Claudia Engelmann verweist auf das geltende Asylrecht: "Diese Unterscheidung muss im Asylverfahren getroffen werden – und nicht von ungeschulten Grenzbeamten oder von Politikern, die pauschal über die Sicherheit eines ganzen Herkunftslandes beschließen. Jeder Geflüchtete hat das Recht auf ein faires Asylverfahren. In dem Verfahren wird dann festgestellt ob jemand hier bleiben darf oder nicht." Die pauschale Unterscheidung zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen sei rechtlich nicht haltbar und Wasser auf die Mühlen der Populisten, so Engelmann.

Peter Györkös über Flüchtlinge aus der Ukraine

Der ungarische Botschafter Peter Gyrökös wehrt sich gegen den Vorwurf, die osteuropäischen Staaten verhielten sich unsolidarisch. Schließlich nehme auch Ungarn Zehntausende, Polen und Tschechien sogar Hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Stimmt das?

"Nach Asylstatistiken von Eurostat kamen in den letzten fünf Jahren 75 Asylbewerber aus der Ukraine nach Ungarn, 4.750 nach Polen, und knapp 1.000 in die Tschechische Republik. In Deutschland waren es übrigens 7.700", sagt Bernd Parusel. Die Zahlen von Peter Györkös könnten sich also nicht auf Schutzsuchende oder anerkannte Flüchtlinge beziehen, sondern wahrscheinlich auf die Zuwanderung aus der Ukraine insgesamt, also auch auf ukrainische Arbeitsmigranten, Studenten, Familienangehörige und andere Gruppen, stellt Parusel klar. Für diesen Bereich spielen die osteuropäischen Staaten laut Parusel aber tatsächlich eine wichtige Rolle. "Vor allem gilt dies für Polen, und das schon lange. Laut Eurostat haben die polnischen Behörden in den letzten fünf Jahren in der Tat rund 700.000 Aufenthaltserlaubnisse an Ukrainer erteilt." Die meisten hiervon seien aber für Kurzaufenthalte von unter einem Jahr und für Arbeitszwecke erteilt worden. In der Tschechischen Republik und in Ungarn waren die Größenordnungen laut Parusel noch geringer: Knapp 70.000 im Fall Tschechiens und unter 10.000 im Fall Ungarns. Dies sind nach Ansicht von Parusel zwar immer noch beträchtliche Zahlen und für die betroffenen Ukrainer sei auch wichtig, dass es solche Zuwanderungsmöglichkeiten gibt. Der Experte stellt aber auch klar: "Wenn man einen Arbeitskräftebedarf mit Zuwanderern deckt, ist das etwas anderes, als wenn man solidarisch mit Flüchtlingen umgeht."

Rolf-Dieter Krause über Flüchtlinge in der Türkei

Rolf-Dieter Krause sagt, alleine die Türkei beherberge bereits 2,5 Millionen Flüchtlinge. Stimmt das?

Die Größenordnung stimmt – die Zahl dürfte sogar noch höher liegen. Nach Angaben des EU-Parlaments beherbergte die Türkei im Januar dieses Jahres 2,5 Millionen Menschen alleine aus Syrien. Hinzu kommen zahlreiche Flüchtlinge aus anderen Staaten. Schon im Januar wies der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu bei einem Treffen mit Kanzlerin Merkel darauf hin, dass die Türkei neben den syrischen Flüchtlingen auch 300.000 Menschen aus dem Irak aufgenommen habe. Und der Zulauf reißt nicht ab: Nach den jüngsten Luftschlägen auf Aleppo fliehen immer mehr Menschen in Richtung Türkei. Zehntausende hoffen derzeit an der Grenze auf die Einreise.

Peter Györkös über Grenzzäune in der EU

Peter Györkös versteht die Aufregung um den Zaun, den Ungarn an der Grenze zu Serbien gezogen hat, nicht. Schließlich sei Ungarn nicht das erste Land, das seine EU-Außengrenze mit einem Zaun sichert.

Das stimmt. Schon lange bevor Ungarn einen Grenzzaun zum Nicht-EU-Mitglied Serbien errichtet hat, gab es bereits andere Staaten, die zur Sicherung der EU-Außengrenze einen Zaun gezogen haben. Bereits in den 1990er Jahren baute Spanien kilometerlange Zäune in seinen Exklaven zu Marokko. Als einer der berüchtigtsten gilt der Grenzzaun von Melilla. Immer wieder werden Verletzte und sogar Tote beklagt, wenn Menschen versuchen den Zaun zu überwinden oder mit einem Boot über den Seeweg zu umfahren. Ein weiteres Beispiel ist Bulgarien. Schon 2014 wurde hier ein Grenzzaun zur Türkei gebaut, um gegen illegale Flüchtlinge vorzugehen. Auch im Nordosten Griechenlands steht ein Zaun an der Grenze zur Türkei, der älter als der ungarische ist. Auch hier war das Ziel, die Zahl von illegalen Flüchtlingen zu reduzieren.

Stand: 16.02.2016, 07:17 Uhr