Konferenz in Jalta 1945 (sitzend von links nach rechts): der britische Premierminister Winston Churchill, US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der sowjetische Diktator Josef Stalin.

Politische "Säuberung" in NRW nach dem Zweiten Weltkrieg

Entnazifizierung oder "Entsorgung"?

Stand: 08.10.2005, 12:17 Uhr

Fragebögen und "Persilscheine" - nach dem Zweiten Weltkrieg wollen die Alliierten die Nazis kaltstellen: Deutschland soll demokratisch werden. Doch die Entnazifizierung ist umstritten: Werden die Täter bestraft oder wird bloß die Vergangenheit entsorgt?

Von Dominik Reinle

Als die amerikanischen Truppen im Herbst 1944 von Belgien aus ins Deutsche Reich vorstoßen, folgt den ersten Panzern ein unbewaffneter Offizier. Sein Auftrag: in die Köpfe der Deutschen schauen. Wer war Nazi - wer ist es noch? Die Berichte von Saul K. Padover gehen direkt an General Eisenhower und beeinflussen die Deutschlandpolitik der amerikanischen Militärregierung unmittelbar. Für die Alliierten ist klar: Nach dem militärischen Sieg über Hitler-Deutschland muss die deutsche "Volksgemeinschaft" politisch umerzogen werden - vom Faschismus zur Demokratie. Noch vor Kriegsende treffen sich Stalin, Roosevelt und Churchill im Februar 1945 in Jalta. Sie beschließen, "alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben" auszuschalten.

Bei seinen ersten Vernehmungen in Roetgen bei Aachen präsentieren sich Padovers Gesprächspartner durchweg als Nazi-Gegner. Es scheint fast so, als hätte Hitler ganz allein einen Angriffskrieg geführt und Millionen von Menschen in Konzentrationslagern umgebracht. Padovers deutscher Botenjunge Karl, der wegen seiner Gehbehinderung nicht in die Hitlerjugend durfte, hat eine Erklärung dafür: "Seit die Amerikaner da sind, wollen sie alle Muss-Nazis sein, alle mussten in die Partei eintreten. Muss - dass ich nicht lache! Sie hätten sie früher sehen sollen - wie sie auf den Führer geschworen haben!"

Die Spuren des "Dritten Reichs" verschwinden lassen

Um die demokratische Umerziehung ("Re-education") zu ermöglichen, müssen die Herrschaftsstrukturen des NS-Regimes zerschlagen werden: Die NSDAP und alle ihre Unterorganisationen werden verboten, NS-Gesetze aufgehoben. Sämtliche Spuren des "Dritten Reichs" wie etwa Straßenschilder mit den Namen von NS-Größen, Bücher, Uniformen und Orden müssen aus der Öffentlichkeit verschwinden. Zusätzlich ergreifen die Alliierten drei Maßnahmen: Sie machen Kriegsverbrechern vor dem internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg den Prozess. Sie stecken Angehörige der NS-Apparates wie SS-Mitglieder oder Gestapo-Beamte in Internierungslager, damit sie keinen Guerillakrieg anzetteln können. Und die Alliierten überprüfen die politische Belastung und ideologische Grundeinstellung der Bevölkerung: Durch die so genannte Entnazifizierung ("Denazification") sollen belastete Personen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Historiker benützen dafür den Begriff "politische Säuberung".

Ausführlich: 133 Fragen auf zwölf Seiten

Entnazifizierungsfragebogen, ausgefüllt von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach

Ausgefüllt: Fragebogen von Alfried Krupp

Die Entnazifizierung verläuft in den vier alliierten Besatzungszonen unterschiedlich. Im Rheinland und in Westfalen geben Amerikaner und Briten im Mai 1945 Fragebögen aus, um festzustellen, wer ein aktiver und überzeugter Nazi ist. In Arnsberg dulden die Alliierten eine deutsche Eigeninitiative: Regierungspräsident Fritz Fries ordnet am 16. Mai 1945 die sofortige Entlassung sämtlicher Beamten, Angestellten und Arbeitern, die vor 1933 in die NSDAP eingetreten waren. Aus diesen Einzelaktionen alliierter und deutscher Stellen entwickelt sich erst allmählich ein geordnetes Überprüfungsverfahren. Das Gebiet von Nordrhein-Westfalen untersteht nach der endgültigen Zoneneinteilung im Juni 1945 den Briten. Jeder, der sich in ihrer Zone um einen Job bewirbt oder bereits beschäftigt ist, muss einen Fragebogen ausfüllen. Priorität haben Beamte im öffentlichen Dienst, Lehrer, Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte und Landwirte. Zu beantworten sind auf zwölf Seiten 133 persönliche Fragen - wie etwa zu Ausbildung, Wahlverhalten und Parteizugehörigkeit. Die Befragten können zu ihrer Entlastung eidesstattliche Erklärungen, die so genannten Persilscheine, vorlegen. Ausgewertet werden die Fragebögen von rund 300 britischen Offizieren.

Deutsche sitzen in Entnazifizierungsausschüssen

Ausschuss-Sitzung in einem Entnazifizierungsverfahren 1948 in NRW

Nachgefragt: Ausschuss-Sitzung in NRW

Ab Frühjahr 1946 werden die Deutschen von den Briten offiziell an der Durchführung der Entnazifizierung beteiligt: In den Städten, Landkreisen und Regierungsbezirken von NRW entstehen deutsche Entnazifizierungsausschüsse. Besetzt werden sie mit - zuvor überprüften - Gewerkschaftern und Parteienvertretern von SPD, CDU und KPD. Die Ausschüsse dürfen aber nur Empfehlungen abgeben. Zunächst gibt es nur die Alternativen "Entlassung" oder "Belassung". Im Frühjahr 1947 führen die Briten ein zusätzliches Verfahren ein: die Kategorisierung. Dabei werden die ehemaligen Nazis in fünf Kategorien eingeteilt: 1. Hauptschuldige (Kriegsverbrecher), 2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), 3. Minderbelastete, 4. Mitläufer, 5. Entlastete. Während sich die Militärregierung die Einstufung in die ersten beiden Kategorien vorbehält, können die Ausschüsse Personen in die Kategorien III bis V einreihen. Für Minderbelastete und Mitläufer können verschiedene Sanktionen verhängt werden: Sperrung des Vermögens, Aberkennung des Wahlrechts, eingeschränkte Bewegungsfreiheit oder untergeordnete Tätigkeit im Beruf. Gegen die Entscheidungen der Ausschüsse können die Betroffenen Berufung einlegen.

In NRW wird die Entnazifizierung per Gesetz beendet

Arbeitsblatt aus der Entnazifizierungsakte des Düsseldorfer OB und späteren NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU)

Kategorie V: Karl Arnold

Ende 1947 legen die Briten die Verantwortung für die Entnazifizierung weitgehend in deutsche Hände. In NRW setzt das Justizministerium einen Sonderbeauftragten ein, der die Arbeit der Ausschüsse kontrolliert. Zugleich verstärkt sich auf britischer wie deutscher Seite die Absicht, die Entnazifizierung zügig zu beenden. Der einsetzende Kalte Krieg schwächt den alliierten Willen zu weiteren Überprüfungen. Die Westzonen werden als Bollwerk gegen den Kommunismus im Osten gebraucht. Ab April 1949 werden die nordrhein-westfälischen Ausschüsse zunächst zusammengelegt und später aufgelöst. Offiziell beendet wird die "politische Säuberung" am 5. Februar 1952, als das Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung in NRW verkündet wird.

"Nur erbärmliche Mitläufer"

Portrait Saul K. Padover, führt 1944/45 als us-amerikanischer Offizier im besiegten Deutschland Vernehmungen durch

Padover: Nur Mitläufer gefunden

Von den Verfahren in Nordrhein-Westfalen sind rund 1,16 Millionen Personenakten erhalten geblieben. Sie lagern heute im NRW-Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf. Darunter sind auch Akten von Prominenten wie etwa Schauspieler Gustav Gründgens, dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) und dem späteren NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU). Insgesamt sind in NRW rund 800.000 Menschen überprüft worden. Das entspricht etwa zehn Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre. Das Ergebnis: Rund 95 Prozent dieser Personen gelten als Mitläufer oder werden ganz entlastet. Nur 90 Überprüfte werden als Hauptschuldige eingestuft. Die Entnazifizierung ist zur "Mitläuferfabrik" geworden - wie Geschichtsprofessor Lutz Niethammer die bundesweite Entwicklung bezeichnet.

Saul K. Padover hat denn auch im besiegten Deutschland vergeblich nach Hinweisen auf Widerstand gesucht. Das bittere Fazit seiner Vernehmungen als amerikanischer Offizier lautet: "Am Ende fanden weder ich selbst noch andere Leute eine nennenswerte Zahl von Oppositionellen, die offen oder versteckt gegen das Hitlerregime gekämpft hatten, sondern nur erbärmliche Mitläufer. Das allein ist der schlimmste Vorwurf, den man den Deutschen machen kann."