25 Jahre Hilfe für Missbrauchs-Opfer

"Heute wird den Betroffenen eher geglaubt"

Stand: 06.02.2012, 06:00 Uhr

Seit 25 Jahren kümmert sich die Kölner Beratungsstelle "Zartbitter" um sexuell missbrauchte Mädchen und Jungen. Im Interview berichtet die Leiterin Ursula Enders, was sich verändert hat, wo Kinder zu Opfern werden und warum das Beratungsteam früher einmal selbst bedroht wurde.

WDR.de: Frau Enders, was wäre Ihr schönstes Geburtstagsgeschenk?

Ursula Enders: Das schönste Geburtstagsgeschenk für Zartbitter wäre die finanzielle Absicherung unserer Arbeit, die bis heute nicht ausreichend gewährleistet wird. Wir sind nur zu 45 Prozent öffentlich finanziert und können deshalb viele dringend notwendige Beratungsangebote und Präventionsprojekte nicht realisieren.

WDR.de: Seit den 80er Jahren beschäftigen Sie sich mit dem schwierigen Thema sexueller Missbrauch - was hat sich im Laufe der Zeit verändert?

Enders: Als wir den Verein gegründet haben, galten wir als Hysterikerinnen, als Radikalfeministinnen, obwohl bei uns Männer mitgearbeitet haben und wir uns auch um betroffene Jungen gekümmert haben. Wir galten als Frauen und Männer, die alles maßlos übertrieben haben. Geändert hat sich, dass die Menschen heute eher den Betroffenen glauben. Die Aufdeckung der vielen Fälle vor zwei Jahren hat bei weitem die Zahlen überschritten, die wir in den 80er Jahren aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse vorausgesagt haben.  

WDR.de: In einer von Ihnen kritisierten Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer heißt es, der sexuelle Missbrauch von Kindern sei zurückgegangen. Was sind Ihre Erfahrungen aus der Praxis?

Enders: Wir haben einen Rückgang von Missbrauch in bestimmten Bereichen, weil zum Beispiel Kinder schon im Kindergartenalter hören, dass jemand sie nicht einfach im Genitalbereich berühren darf, und weil sich Kinder heute eher artikulieren. Aber wir haben eine immense Zunahme sexualisierter Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Zum anderen ist es so, dass Herr Pfeiffer in seiner Studie nur als Missbrauch anerkannt hat, wenn die Betroffenen gesagt haben, dass der Täter sich oder das Kind sexuell befriedigen wollte. In den meisten Fällen ist Missbrauch aber ein Unterwerfungsritual, Ausdruck von Macht und Demütigung. Diese Formen, die rein sadistisch geprägt sind, hat Herr Pfeiffer weitgehend ausgeblendet.   

WDR.de: Wo werden Kinder zu Opfern? 

Enders: Ein Drittel der Mädchen wird in der Familie missbraucht, bei den Jungen sind es weniger, nur etwa 25 Prozent. Wir haben ein relativ hohes Maß an sexueller Ausbeutung in Schulen, nicht nur durch Lehrpersonen, sondern eben auch unter Kindern und Jugendlichen. Hauptgefährdungsalter ist das erste Schuljahr oder das fünfte, sechste Schuljahr. Immer dann, wenn sich Gruppen neu zusammensetzen, finden Unterwerfungsrituale statt. Ein weiterer Bereich sind die Jugendarbeit und die Ferienfreizeiten. Zartbitter wird ebenso häufig mit Fällen von Missbrauch im Sport konfrontiert.

WDR.de: Sexuelle Übergriffe unter Grundschulkindern - das überrascht. Warum ist dies bisher zu wenig im Blick gewesen?

Enders: Früher hat man fälschlicherweise sexuelle Übergriffe unter Kindern als Doktorspiele bewertet: Wenn zum Beispiel ein Neunjähriger einen Sechsjährigen sehr belästigt hat, hieß es, das seien verspätete Doktorspiele. Früher hat man auch gesagt: Du darfst nicht petzen. Aber Kinder müssen wissen: Hilfe holen ist ihr Recht. Erwachsene sollten Kindern zuhören, wenn sie anfangen darüber zu reden, und dürfen nicht sagen, regelt das untereinander. Heute ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass die sexuelle Belästigung unter Kindern sehr wohl traumatisierend sein kann.

WDR.de: Sie sagen, Mädchen und Jungen sind in Schulen weitaus weniger vor sexueller Belästigung geschützt als Erwachsene am Arbeitsplatz. Was fordern Sie?

Enders: Wir verlangen die regelmäßige Vorlage erweiterter Führungszeugnisse, in denen Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen aufgeführt werden – auch für Lehrer. Alle anderen pädagogischen Berufsgruppen müssen regelmäßig ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, beamtete Lehrer nur bei der Einstellung. Ich glaube nicht, dass damit das Problem grundsätzlich gelöst würde, aber Lehrern würde regelmäßig bewusst, dass sie die Grenzen von Kindern zu achten haben. Was wir vor allen Dingen auch brauchen, ist ein Verhaltenskodex für Schulen und ein klarer, offener Umgang. Dann würde nicht derjenige Kollege gemobbt, der die Grenzverletzung des anderen benennt, sondern diejenigen hätten mit Konsequenzen zu rechnen, die zum Beispiel Schülerinnen im neunten Schuljahr regelmäßig vor der Klasse den Oberschenkel Richtung Genitalbereich streicheln.

Das Gespräch führte Marion Menne.