Ein Mädchen spielt Klarinette im Kulturzug

Melez 2010 feiert "Bergbau.Arbeit.Solidarität"

Es fährt ein Zug nach Zollverein

Stand: 17.10.2010, 14:24 Uhr

Kultur in einem Zug - das Melez-Festival hat sich im Ruhr 2010-Jahr auf die Schiene verlegt. Mit Künstlern und Gästen fährt der Melez-Zug durchs Ruhrgebiet. Reise-Thema am Sonntag (17.10.2010): "Bergbau.Arbeit.Solidarität" - das Ziel: Zollverein. Bitte einsteigen!

Von Jenna Günnewig

Gleis neun, Duisburg Hauptbahnhof, Sonntagmittag. "Der Zug fährt ab", blechert es um 12.48 Uhr aus den Lautsprechern. Pünktlich, dieser "Gesellschaftssonderzug". Mit Ausnahme der Deutschen Bahn nennen ihn alle nur Melez-Zug. Für das diesjährige Melez, ein Festival der Kulturen in der Ruhrregion, ist der Zug Hauptspielort und Hauptrolle in einem. Fünf Waggons ist die rollende Bühne insgesamt lang, auf 13 Fahrten ruckelt sie auf den Routen der S1 und S2 durchs Ruhrgebiet, Industriekultur immer am Schienenrand.

Rein in den warmen Waggon, die künstlerische Direktorin der Ruhr 2010 Aslı Sevindim sitzt schon in einem der freien Vierersitze. Das heutige Reisethema "Bergbau.Arbeit.Solidarität" sei das, was die Menschen aus dieser Region ausmache. Türken, Italiener, Deutsche oder Griechen - sie alle verbinde im Ruhrgebiet eine gemeinsame Geschichte, die Arbeit im Bergbau. Und dazu gehört auch die Solidarität? Sevindim nickt: "Unter Tage konnte man sich keinen Egoismus leisten, da musste man sich aufeinander verlassen."

Waschbären und Bär bieten Unterhaltung

Um Bergbau-Tradition und Zusammenhalt geht es auch in den Geschichten ein Abteil weiter vorne. Im weißen Wagen heißt es "Glück auf" zur Begrüßung, denn hier erzählen die sogenannten Waschbären von ihrer anstrengenden Arbeit in der Kohlenwäsche - der Herr Mantowski, die Gebrüder Spahn und ihre Familien. Alles Zollverein-Urgesteine, die 30 Jahre und mehr auf der Zeche geschuftet haben, "mit Wochenende war nicht viel!" Draußen rauscht wie bestellt eine kleine Schrebergarten-Siedlung vorbei.

Im Zug und auf den Gängen drücken, drängen, schieben die Reisenden, mindestens so voll wie ein NRW-Express bei Feierabend ist der Melez-Zug, die Stimmung ist allerdings weitaus entspannter. Mit 252 Zugfahrern ist die Bergbau-Nostalgie-Fahrt ausverkauft, so gut gebucht war Melez noch nie. Die Veranstalter erklären das mit der Endhaltestelle Zollverein und Dietmar Bär.

"Bewusst oder unbewusst, Solidarität wird hier gelebt"

Der Schauspieler liest im überfüllten, roten Salon aus dem Bergbau-Roman "Milch und Kohle". Um kurz nach 14 Uhr macht der Melez-Zug einen Zwischenstopp am Oberhausener Bahnhof und Bär auf dem Bahnsteig eine Pause. "Die Region ist von Stahl und Kohle geprägt, Bergbau ist hier Identität" - und wie viel verklärte Erinnerung steckt in all den Geschichten? "Früher war doch eh alles besser", sagt Bär grinsend. Aber im Ruhrgebiet werde beispielsweise mit dem Thema Integration durch die lange Tradition im Bergbau besser und lässiger umgegangen. Solidarität werde in der Region immer noch gelebt, "bewusst oder unbewusst". Türen piepsen, Bär muss rein, weiterlesen, Reisende soll man nicht aufhalten.

Weiter geht es durch das Ruhrgebiet. Am Gasometer und dem Stadion von Rot-Weiß Oberhausen vorbei. Im ersten Abteil, dem Bühnenwagen, wird die vorbeiziehende Industriekultur nur wenig gewürdigt. Mit Zieh- und Mundharmonika, Ukulele, Gitarre und rauer Stimme gibt Frank Baier regionale Arbeiterlieder zum Besten. Er singt vom Kohlenpott, von Streik, geringem Lohn und den Bonzen. Josef Ackermann und Joschka Fischer bekommen zwischen fast jedem Song einen verbalen Seitenhieb - so viel Luft nimmt Baier sich gerne.

Endstation Zeche

Die Stimme aus dem Lautsprecher, die das baldige Ende der Zugfahrt ankündigt, übertönt Baier mühelos. In Altenessen bekommt der Melez-Zug eine Diesellok angeklemmt, denn von hier aus geht es weiter auf die Strecke nach Zeche Zollverein. Dass die Bordelektronik nun runtergefahren ist, hemmt den Ruhrgebietsbarden auf Touren nicht. Baier singt halt ohne Strom und Mikro weiter, seine neuen Fans dienen als Verstärker, klatschen und singen begeistert mit.

Draußen schleifen Pflanzen am Zug entlang, die Schienen nach Zollverein werden nicht mehr oft befahren. Je näher die Zeche kommt, desto mehr Menschen säumen die Gleise, winken, lachen und machen Fotos von dem bunten Zug. Drinnen wird begeistert zurück geknipst. Dann hält der Zug, die Türen öffnen sich: Hallo Zollverein, hier ist Melez!

"Mein Herz hängt an Zollverein"

Detlev Spahn steigt aus dem weißen Wagen aus, jetzt ist er zuhause. 26 Jahre hat der 68-Jährige hier auf der Zeche gearbeitet, nun gibt er Führungen - jeden Tag und an diesem Sonntag für die Melez-Reisenden. "Ich bin nie wirklich weggekommen von Zollverein", sagt Spahn, während er auf die alte Kohlenwäsche zu läuft. Er wohne auf der anderen Straßenseite, sein Bruder, sein Vater, insgesamt vier Generationen hätten schon auf Zollverein gearbeitet. "Wissen Sie, ich kenn hier einfach jede Schraube", und dann lässt er die Zeche in seinen Geschichten wiederauferstehen. Erzählt von den Jahren, in denen auf dem riesigen Gelände 8.000 Menschen 24.000 Tonnen pro Tag gefördert und sie ohne Atemschutz und Handschuhe gearbeitet haben. "110 Dezibel war es in der Kohlenwäsche laut", mit Putzwolle in den Ohren habe er sich vor dem Lärm geschützt.

Wieder draußen, kurz vor Ende der Führung, möchte eine Dame noch wissen, was das da drüben für eine Lichtinstallation sei. Der redselige Spahn zuckt etwas hilflos die Achseln, "das ist halt Kunst." Die Kulturhauptstadt hat Spahns Zeche verändert, zur ehemaligen Kohlenwäsche gibt es jetzt Kreativwirtschaft und Coffee to go. 6.000 Besucher kommen jeden Tag von weit her, um eine der Geburtsstätten des Ruhrgebiets-Mythos "Bergbau.Arbeit.Solidarität" zu besichtigen. Ob der Andrang nach der Zeit von Melez und Kulturhauptstadt noch so bleibt, das weiß noch keiner. Nur Detlev Spahn weiß, dass er hier sein wird: "Mein Herz hängt halt an Zollverein."