Arbeitsvermittlerin war wohl "Ausweichsopfer"

Tödliche Messerattacke in Jobcenter

Stand: 27.09.2012, 16:25 Uhr

Die bei einer Messerattacke im Jobcenter in Neuss getötete Arbeitsvermittlerin war laut Ermittlern "ein Ausweichsopfer". Der mutmaßliche Täter habe eigentlich einen anderen Mitarbeiter sprechen wollen. Er bestreitet, dass er die 32-Jährige töten wollte.

Wie die Ermittler am Donnerstagmittag (27.09.2012) bekanntgaben, wollte der mutmaßliche Täter eigentlich zu einem anderen Sachbearbeiter. Diesen habe er jedoch nicht angetroffen. Das 32-jährige Opfer sei ein "Zufalls- oder Ausweichsopfer" gewesen. Der 52-jährige Arbeitssuchende habe mit dem anderen Mitarbeiter über eine Datenschutzerklärung sprechen wollen, die er vor ein paar Wochen unterschrieben hatte. Ein Fernsehbeitrag habe sein Misstrauen geweckt. Weil der Mitarbeiter nicht da war, hatte er das später Opfer aufgesucht, die seine persönliche Sachbearbeiterin war. Die Frau habe mit ihm kurz gesprochen, ihn wegen eines bereits wartenden Kunden mit Termin aber bald aus dem Büro geschickt. Daraufhin habe der Mann ein Messer gezückt.

Laut Guido Adler, dem Leiter der Mordkommission, hat der Mann ausgesagt, "nächtelang" nicht geschlafen zu haben, weil er fürchtete, seine Daten würden an Unternehmen weitergegeben. Für die Ermittler sei dieses Motiv "nicht nachvollziehbar". Sie wollen die Zurechnungsfähigkeit des Verdächtigen untersuchen lassen. Eine Leistungskürzung oder ähnlich gravierende Einschnitte hätten dem Vater von fünf Kindern nicht gedroht.

Staatsanwatschaft ermittelt wegen Mordes

Laut Staatsanwältin Britta Zur habe der Mann bereits bei seiner Ankunft am Jobcenter vor Wut gekocht. Bewaffnet war er mit zwei Messern. Eine Klinge sei bei der Tat abgebrochen. Wegen dieser Umstände, und auch weil das Opfer arg- und wehrlos gewesen sei, will die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl wegen Mordes beantragen. Der mutmaßliche Täter wiederum habe in den Vernehmungen eine Tötungsabsicht bestritten.

Indes wird weiter darüber diskutiert, ob der Tod der 32-jährigen Arbeitsvermittlerin im Jobcenter der Stadt Neuss hätte verhindert werden können. Warum kam jede Hilfe zu spät? Nach bisherigen Ermittlungen war der Täter unangemeldet in dem Einzelbüro der Frau erschienen und hatte sie mit einem Messer attackiert. Ein Kollege rief die Polizei, das Opfer starb im Krankenhaus. Der mutmaßliche Täter wurde in der Nähe des Gebäudes festgenommen.

Gewerkschaft der Polizei fordert mehr Schutz

Die Gewerkschaft der Polizei ist alarmiert und fordert eine bessere Technik zum Schutz der Mitarbeiter. Der Gewerkschaftsvorsitzende Bernhard Witthaut sagte, man müsse über Alarmknöpfe und Kameraüberwachungen nachdenken. In Neuss können Mitarbeiter über einen Knopf einen visuellen Alarm auf den Bildschirmen ihrer Kollegen auslösen. Allerdings hat dieser Alarm nach Informationen von WDR.de nicht funktioniert, als sich in der Vergangenheit eine Mitarbeiterin von einem Kunden bedroht fühlte. Auch die regelmäßigen Deeskalationstrainings, die die Gewerkschaft vorschlägt, scheinen eine Tat wie die von Neuss nicht verhindern zu können: Die getötete Frau hatte kurz zuvor an einem solchen Training teilgenommen.

"Wut und Verzweiflung" bei den Arbeitslosen

Die Stimmung in den Jobcentern hat sich laut Polizeigewerkschaft massiv verschlechtert. Angriffe auf Angestellte hätten zugenommen. Bei einer Befragung von 500 Mitarbeitern im Jahr 2009 habe jeder vierte angegeben, Opfer eines Übergriffs gewesen zu sein. Anlass sei häufig, dass Bescheide in Hartz-IV-Verfahren abgelehnt wurden. Die komplizierte und oft schwer durchschaubare Gesetzeslage provoziere Wut und Verzweiflung. Witthaut sagte: "Kunden der Jobcenter sind teilweise aggressiv, teilweise auch angetrunken."

Personalrat: Mitarbeiter sind überlastet

Auch der Vorsitzende der Jobcenterpersonalräte Uwe Lehmensiek zeichnete kein gutes Bild von der Situation in Jobcentern. Sie sei von Überlastung und Frust geprägt. Druck und Sparzwänge sorgten für aggressive Kunden. Die Lösung ist für ihn, mehr Personal einzusetzen. Er forderte einen realistischen Betreuungsschlüssel und eine vernünftige Personalausstattung.

"Mitarbeiter können sich nicht hinter Schutzglas verschanzen"

Bei der Bundesagentur für Arbeit herrscht Entsetzen über die Tat. Eine Sprecherin teilte mit, einige Jobcenter und Arbeitsagenturen beschäftigten externe Sicherheitsdienste, die im Falle eines Konflikts einschreiten könnten. Vorstandsmitglied Heinrich Alt beteuerte, ein Vorfall wie dieser sei nicht zu verhindern gewesen: "Unsere Mitarbeiter können sich nicht hinter Schutzglas verschanzen. Wir brauchen eine Vertrauensbasis mit unseren Kunden. Dazu müssen wir eine offene Behörde sein." Unmittelbare Konsequenenzen will die Bundesagentur für Arbeit aus der Neusser Attacke nicht, erklärte Alt: "Wir müssen immer über die Sicherheit in unseren Dienststellen nachdenken."