Zerbombte Limousine von Alfred Herrhausen

Interview mit der Autorin Anne Siemens (Teil 1)

"Den RAF-Opfern ein Gesicht geben"

Stand: 21.05.2007, 00:00 Uhr

"Wer einmal Opfer wurde, kann nie Ex-Opfer sein", sagt Corinna Ponto, deren Vater 1977 von der RAF ermordet wurde. Die Journalistin Anne Siemens hat mit ihr und anderen Angehörigen gesprochen, deren Leben der Terror verändert hat.

Bad Homburg, 30. November 1989: Als der Wagen des Sprechers der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, in die Luft gesprengt wird, befindet sich Anne Siemens wenige hundert Meter entfernt in ihrer Schule. "Es gab in der ersten Stunde einen unglaublich lauten Knall und die Fensterscheiben bebten", erinnert sich die Autorin und Politikwissenschaftlerin. "Damals war ich 15 Jahre alt und habe vermutlich nicht anders reagiert, als jeder Mensch, in dessen Umfeld eine solche Gewalttat geschieht. Ich war zutiefst erschreckt über das Attentat, aber auch - auf einer anderen Ebene - über die Tatsache, dass es vorbereitet werden konnte. Die Straße, in der die Bombe detonierte, ist sehr belebt. In ihr gibt es zwei Schwimmbäder, die Schule. An der Baustelle, die als Tarnung diente, sind täglich Passanten vorbeigegangen - und doch hat niemand bemerkt, was dort geschah."

Die Morde aus der Opferperspektive

Die Journalistin Anne Siemens

Autorin Anne Siemens

Mit den terroristischen Gruppen in der Bundesrepublik hat sie sich erst im Studium befasst. "Die Frage meiner Doktorarbeit war, welche Faktoren dazu führen, dass sich jemand für den Weg in den Terrorismus entscheidet", sagt Siemens. Nun hat sie 2007 ein Buch mit dem Titel "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" veröffentlicht. Darin kommen Angehörige der Opfer und Überlebende des Terrors zu Wort. Sie schildern die Ereignisse aus ihrer Sicht: den Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm, die Ermordung von Jürgen Ponto, die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer, die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut" und den Mord an Gerold von Braunmühl.

WDR.de: Welche Themen beschäftigen die Angehörigen von RAF-Opfern und die Überlebenden des Terrors heute?

Anne Siemens: Mein Eindruck ist, dass es den betroffenen Familien vor allem um Aufarbeitung und Klärung offener Fragen geht - etwa die Frage, wie weit das Unterstützer-Netzwerk der DDR und des russischen Geheimdienstes KGB für die RAF reichte. Ein anderer Bereich, der noch vollkommen im Dunkeln liegt: Alle der RAF zugeordneten Morde von 1985 an sind nicht aufgeklärt. Patrick von Braunmühl, der Sohn des 1986 ermordeten Gerold von Braunmühl, bringt das im Buch sehr klar zum Ausdruck: Er will wissen, wer seinen Vater ermordet hat. Und er will wissen, wie die internen Prozesse in der RAF abgelaufen sind, nach welchen Kriterien Opfer ausgewählt wurden. Ob man die Menschen überhaupt angeschaut hat, die zu Opfern wurden.

WDR.de: Welche Erfahrungen haben Sie bei den Gesprächen gemacht?

Gerold von Braunmühl

Gerold von Braunmühl

Siemens: Ich habe vieles erfahren, was bisher noch nicht öffentlich bekannt war. Wichtig war mir, der Frage nachzugehen: Wer waren die Menschen, die zu Opfern wurden? Man hat die Opfer bisher fast ausschließlich im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Position gesehen und kaum gefragt, wie sie im Kontext ihrer Zeit gelebt haben, wofür sie standen, wie sie über Politik gedacht haben, über die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit, über gesellschaftliche Entwicklungen - etwa die Studentenbewegung. Darüber wusste man bisher wenig, in vielen Fällen gar nichts.

WDR.de: Manche Familien waren bereit, Ihnen Interviews zu geben, andere nicht. Welche Beweggründe haben da eine Rolle gespielt?

Siemens: Es ist schwer, darauf eine einheitliche Antwort zu geben. Es spielte sicher für alle eine Rolle, dass es in dem Buch um die Biographien der Opfer gehen sollte, um ihr Leben - und auch darum, wie die Angehörigen und die Überlebenden des Terrors heute über den Umgang mit der Geschichte der RAF denken. Fragen, die in den letzten 30 Jahren wenig gestellt wurden. Mit den Tätern hat man sich ja sehr ausgiebig beschäftigt und unterschiedlichste Aspekte ihrer Geschichte beleuchtet. Mit dem Buch ging es mir darum, den Blick auf die Geschichte der RAF zu erweitern, die eben nicht nur eine Täter-Geschichte ist. Aber ich möchte nicht missverstanden werden. Mein Ansatz ist nicht, die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Täter zu tabuisieren oder zu beschneiden. Aber es gibt eben auch die andere Geschichte, die der Opfer, auf die man blicken sollte. Für einige Gesprächspartner gab es noch eine zweite Motivation. Sie wollten der Tendenz einer Verharmlosung oder Verklärung der RAF etwas entgegensetzen.

WDR.de: Gibt es Fragen, auf die Sie von den Angehörigen in den Interviews keine Antwort erhalten haben?

Siemens: Im Grunde nicht, nein.

WDR.de: Christa von Mirbach, deren Mann in Stockholm erschossen wurde, sagt zum Beispiel, dass sie über ihre Trauer und deren Aufarbeitung nicht sprechen möchte. Auch Hanns-Eberhard Schleyer sagt, dass es bestimmte Erinnerungen gibt oder eine bestimmte Art der Aufarbeitung, an die man niemanden heran lässt.

Hanns Martin Schleyer

Erschossen: Hanns Martin Schleyer

Siemens: Ziel des Buchs war es nicht, die Trauerarbeit meiner Interviewpartner darzustellen, in die tiefsten privaten Tiefen vorzudringen. Aber natürlich ging es in den Gesprächen um die Frage, wie die Angehörigen in den Jahren nach den Morden mit diesen Taten umgegangen sind - etwa, warum sie an die Öffentlichkeit gegangen sind oder, wie viele Familien, eben auch nicht. Hanns-Eberhard Schleyer etwa berichtet, dass es für ihn wichtig war, das Gespräch mit den Intellektuellen zu suchen, die in seinen Augen in den 60er und 70er Jahren zur Radikalisierung der Studentenbewegung beigetragen haben, dies wollte er sicht- und hörbar tun. Und in dem Zusammenhang sagte er, dass es daneben eine ganz persönliche Bewältigung von Verlust gibt, eine emotionale Aufarbeitung der Geschehnisse, die für die Öffentlichkeit verborgen in einem selbst und mit der Familie stattfindet. Das finde ich sehr verständlich und wie gesagt, es war auch nicht der Ansatz des Buches, sich auf die Frage nach der Trauerarbeit zu konzentrieren. Menschlicher Verlust ist in meinen Augen ohnehin schwer darstellbar.

>> Im zweiten Teil: Wie Angehörige ihr Verhältnis zu den RAF-Tätern und zum Staat beschreiben.