Prozess gegen SS-Mann eingestellt

Aus Mangel an Beweisen

Stand: 08.01.2014, 17:25 Uhr

Einen Mord konnte das Landgericht Hagen Siert Bruins nicht mehr nachweisen - die Merkmale fehlen. Und Totschlag ist verjährt. Nach vier Monaten ist das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Mann also eingestellt worden. Eine Reportage aus dem Gerichtssaal.

Von Katja Sponholz

Genau an dieser Stelle haben sich die drei Rentner vor einem Jahr kennengelernt: vor dem großen Sitzungssaal im Landgericht Hagen. Damals besuchten sie den Prozess um den so genannten "Mützenmörder". "Wir wollten mal einen richtigen Mörder sehen", sagt Lutz Friebel (70). Ob sie das auch an diesem Tag tun werden? Fest steht nur, dass der 92-jährige Siert Bruins wegen Mordes angeklagt ist. Doch ob ihm das nachzuweisen ist? Der Fall liegt 69 Jahre zurück, die Beweisführung ist schwer, lebende Zeugen gibt es nicht, das Gericht muss sich mit alten Akten und dem Verlesen der Aufzeichnungen zufrieden geben. Und die Positionen von Verteidigung und Anklage liegen so weit voneinander entfernt, wie es weiter nicht sein kann: Staatsanwaltschaft und Vertreter der Nebenklage haben eine Verurteilung wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe beantragt. Der Verteidiger hat Freispruch für seinen Angeklagten gefordert.

Mit 92 zu alt für das Gefängnis?

Auch die drei Rentner, die schon eine Stunde vor Prozessbeginn warten, sind sich nicht einig. "Ich erwarte eine Bestrafung, die aber nicht in Haft umgewandelt wird, weil das unmöglich ist, einen 92-Jährigen noch ins Gefängnis zu stecken", sagt Lutz Friebel. Das sieht Siegfried Ruthenkolk (70) anders: "Mord verjährt nicht. Der Mann war damals 23, da wusste er was er tat. Und dann müsste er auch ins Gefängnis." Das meint auch Klemens Müller (62), der ehrenamtlich als Schöffe arbeitet: "Für mich ist es nicht wichtig, wie alt jemand ist. Egal ob er 92 ist. Ich erwarte, dass er verurteilt wird und in Haft kommt." Doch Siegfried Ruthenkolk ist skeptisch. Er weiß, dass die Beweisführung schwierig ist. "Wenn ich urteilen müsste, würde ich wohl 'in dubio pro reo' gelten lassen", sagt er nachdenklich. Im Zweifel für den Angeklagten. 

Es ist ein Satz, der wenig später im Gerichtssaal noch häufiger fallen wird in der Urteilungsbegründung der Vorsitzenden Richterin Heike Hartmann-Garschagen. Und auch Formulierungen wie "Wir wissen es nicht", "Wir hätten gerne gefragt", "Wir werden es nie herausfinden können".

Angeklagter zeigt keine Regung

Der Prozess beginnt mit zehn Minuten Verspätung. Erst wird den vielen Reportern aus Deutschland und den Niederlanden ausreichend Zeit gegeben, den Angeklagten zu filmen und zu fotografieren: Ein alter Mann mit grauen Haaren, der einen Rollator vor sich herschiebt, als er den Gerichtssaal betritt. Sein Gesicht zeigt keine Regung; seine Mimik, seine Gestik verraten kein Gefühl. Nur manchmal, als er der knapp einstündigen Urteilsbegründung zuhört, scheint er Probleme mit dem Verstehen zu haben. Dann dreht er den Kopf zur Seite und reguliert offenbar sein Hörgerät. Siert Bruins kommentiert das Urteil nicht. Auch nicht im Gespräch mit seinem Verteidiger. Aber der muss ihm erläutern, was die Richterin da gerade verkündet hat. Dass das Verfahren wegen Mordes gegen ihn eingestellt wird.  "Mein Mandant hatte das akustisch nicht verstanden", sagt Verteidiger Hans-Peter Kniffka später.

Unverständnis über das Urteil

Auch andere im Gerichtssaal verstehen das Urteil nicht. Aber aus anderen Gründen. "Unfassbar", sagt der 27-jährige Ingo, der seinen vollen Namen nicht nennen will – aus Angst vor Neonazis. "Wir haben doch angeblich so eine tolle Aufarbeitung in Deutschland. Und dann ist es kein Mord, wenn jemand von hinten erschossen wurde?" Nach der Verhandlung hält er mit anderen Mitgliedern einer Antifaschistischen Gruppe aus dem Bergischen Land ein Plakat mit Namen und Todestagen hoch, darüber steht: "Keine Ruhe für NS-Täter! Bikker, Boere, Bruins – Der Nächste kommt bestimmt!"

Auch die niederländischen Journalisten im Gerichtssaal können das Urteil nicht verstehen. Nicht wegen der Sprache. Sondern weil sie ihren Lesern und ihren Zuschauern in ihrem Heimatland nun verständlich machen müssen, warum es wichtig ist, ob das Opfer, der niederländische Freiheitskämpfer Aldert Klaas Dijkema, damals im September 1944 wusste, was ihn erwartete. Ob er ahnte, dass er erschossen werden sollte, als die zwei SS-Männer das Auto anhielten und ihn aufforderten, auszusteigen und auszutreten. Aber genau das ist entscheidend, um Bruins wegen Mordes belangen zu können. Und genau da hat das Gericht Zweifel. In dubio pro reo.

Staatsanwaltschaft denkt noch über Revision nach

Kopfschüttelnd fragen die niederländischen Journalisten nach der Urteilsbegründung immer wieder bei Staatsanwalt Andreas Brendel nach: "Wenn das Opfer arglos gewesen wäre, wäre der Angeklagte verurteilt worden?" wollen sie wissen. "Ja", sagt Brendel, "das ist deutsches Recht. Ich kann’s nicht ändern. Es ist schwierig, es ist schwer nachvollziehbar." Und gleichzeitig ist für ihn schon klar: "Das Urteil ist ordnungsgemäß. Und es ist sehr detailreich begründet." Deshalb weiß er auch noch nicht, ob er Revision einlegen wird. "Das werde ich jetzt erstmal alles sacken lassen und dann entscheiden."

Rentner Lutz Friebel jedenfalls sieht sich in dem Urteil bestätigt. "Ich vermute, der Mann war schuldig. Aber nach diesen vielen Jahren und der schwierigen Beweislage sollte man einem 92-Jährigen sagen: Geh mit deinem Rollator nach Hause und mach den Rest mit dem lieben Gott aus."